»reisegruppe heim-weh!« – Eine performative Stadtrundfahrt

Das Projekt »reisegruppe heim-weh!« ist eine performative Stadtrundfahrt in einem Reisebus, die den alltäglichen Umfeldern und Wahrnehmungen von Flüchtlingen in Leipzig nachspürt. Asylsuchende werden dabei zu Reiseleitern und Bürgerinnen und Bürger zu Besuchern in der eigenen Stadt. In den Erzählungen der Darsteller/innen und den Begebenheiten entlang des Weges erlebt die Reisegruppe eine Fahrt ins »Unbekannte«, die persönliche Vorstellungen konfrontiert und vielleicht ungeahnte Gemeinsamkeiten entdecken lässt. Hintergrund für das Projekt bildete die teils hitzig geführte Debatte zum Thema Flüchtlingsunterbringung in Leipzig seit 2012. Anwohner/innen und rechte politische Strömungen formierten sich in mehreren Stadtteilen zum Protest gegen neue Unterkünfte. Von den Erfahrungen der hier lebenden Flüchtlinge bekommt man hingegen so gut wie nichts mit.

Zielsetzung

Das Projekt »reisegruppe heim-weh!« zielte darauf, einen künstlerischen Beitrag zum Dialog zwischen Leipziger Bürger/innen und Asylbewerber/innen zu leisten. Wichtig war die Schaffung eines neuen Zugangs zum Thema Flucht und Asyl durch gegenseitiges Kennenlernen. Alteingesessene Bürgerinnen und Bürger sollten die Rolle von Touristen in der eigenen Stadt und Asylbewerberinnen und Asylbewerber die Rolle von Reiseleitern einnehmen, die ihre Sicht auf Leipzig vermitteln. Denn bislang kamen die Neuhinzugezogenen in der medialen und politischen Debatte kaum zu Wort. Die Theaterarbeit sollte ihnen ermöglichen, in Erscheinung zu treten und am Leben in der Stadt zu partizipieren.

Projektverlauf

Zunächst trugen die Projektleiterinnen Informationen zur Unterbringung von Flüchtlingen und zu herrschenden Vorurteilen zusammen. Dazu führten sie Interviews mit Bürgerinitiativen aus konfliktbeladenen Stadtteilen, mit Willkommensinitiativen, Politiker/innen und Passant/innen vor bestehenden  und geplanten Asylunterkünften. Zeitgleich wurden vielfältige Bemühungen zur Akquise von Teilnehmer/ innen für das Projekt unternommen. Als wichtig stellte sich die Kontaktaufnahme zu den Sozialarbeitern der Gemeinschaftsunterkunft Riebeckstraße 63 heraus. Die Mitarbeiter zeigten Interesse an dem Projektvorhaben und gaben Hilfestellung. Die Projektleiterinnen lernten die Bewohner/innen persönlich kennen und erzählten von ihrem Vorhaben. Bis zu zehn Asylsuchende aus dem Iran, Afghanistan und Syrien nahmen schließlich an Workshops zu den Grundtechniken des Theaterspiels in den Räumen der »Cammerspiele Leipzig« teil, ca. zwei Drittel von ihnen waren unter 27 Jahre alt. Parallel zu den Workshops wurden unter Einbezug von Übersetzern Interviews mit den Asylsuchenden in ihrer Muttersprache geführt. Dabei ging es um den Alltag und die Erfahrungen der Flüchtlinge in Leipzig und um den Alltag im Herkunftsland. Auf die Flucht wurde nur eingegangen, wenn die Interviewpartner es wollten. In den Proben wurden Geschichten und Themen aus den Interviews szenisch umgesetzt — zum Beispiel Erfahrungen und Erlebnisse bei der Ausländerbehörde oder dem Sozialamt. Ab Mitte September2014 probte die Gruppe dann im Reisebus.

Die zweistündigen Aufführungen fanden täglich vom 23. bis 25. September 2014 statt. Jeweils 38 Zuschauer/innen und sechs Darsteller/innen begaben sich auf die Rundfahrt durch die Stadt. Sie führte an Orte, die im Leben der Asylbewerber/innen eine Rolle spielen, z.B. die Asylheime Riebeckstraße 63 und Torgauer Straße 192. Orte, die nicht direkt angefahren werden konnten, wurden an anderen Plätzen nachgestellt. So kreiste der Bus auf dem leeren Gelände eines Autokinos um zwei Personen, die eine Situation auf dem Leipziger Sozialamt darstellten, das sich im sogenannten Ratzelbogen, einem Gebäude mit kreisförmig angeordneten Fluren befindet. Dazu erzählten die Darsteller/innen in ihrer Muttersprache die in den Interviews geschilderten Geschichten und Erlebnisse. Während der Bus etwa durch ein Villenviertel fuhr, schilderte Rama aus Syrien ihr früheres Leben in einer Villa. Das Publikum hörte die Übersetzung sowie zuvor eingesprochene Anwohnerstimmen und Musik über Kopfhörer. Eine Ausnahme bildete Ali. Er stellte den Reiseleiter dar und sprach erklärende Worte und Beschreibungen auf Deutsch.

Die Pause nach einer Stunde Busfahrt fand im Gemeinschaftsgarten »Querbeet« statt. An diesem Ort hatten einige Verwandte der Darsteller/innen ein Essen zubereitet. Es gab Limonade, Kaffee und Kuchen. Die Pause verbrachten Darsteller/innen und Zuschauer/innen gemeinsam und es kam zu einem intensiven und zwanglosen Austausch.

Herausforderungen

Es war schwer zu überprüfen, wie viele Leipziger »Nachbar/innen« von Gemeinschaftsunterkünften, die eventuell sogar Vorbehalte gegen Asylbewerberheime und Asylbewerber/innen haben, letztendlich im Bus saßen. Der Ansatz, über Bürgerinitiativen und Vereine sowie persönliche Gespräche Anwohner/innen zu gewinnen, ist an dieser Stelle nicht aufgegangen. Dennoch war das Publikum durch die Bewerbung der Performance im Rahmen der interkulturellen Wochen sehr durchmischt was das Alter, die Stadtgebiete und die soziale Herkunft angeht.

Erfolge

Die Durchführung des Projektes hat insgesamt sehr gut funktioniert. Aus anfänglichen Unsicherheiten auf allen Seiten entwickelte sich ein sehr gutes Zusammenspiel im Team.

Die gemeinsame Theaterarbeit wurde von den Teilnehmer/ innen als wichtiger Bestandteil ihres Lebens begriffen. Etwas außerhalb des Heims zu tun, sich selbst im Theaterspielen ausprobieren zu können und den Alltag zu vergessen, neue Menschen zu treffen und über die eigenen Probleme und Ängste zu sprechen, waren dabei wichtige Gründe, die von den Teilnehmer/innen genannt wurden. Die Inhalte der Aufführung stammten zum großen Teil von den Asylsuchenden, auch die performativen Elemente sind aus den Workshops heraus entstanden.

Den Äußerungen der Mitreisenden nach der Busfahrt war zu entnehmen, dass die Darsteller/innen nicht als Opfer oder als »die« Asylsuchenden wahrgenommen wurden, sondern als einzelne Menschen, die interessante Dinge zu erzählen haben. Die Performance wurde nicht als bedrückend oder belehrend, sondern als emotional, zeitweise witzig und informativ empfunden. Als wichtiges Element wurde besonders die unausweichliche Nähe im Bus betont, durch die die Reisegäste immer in direktem Kontakt zu den Darstellenden standen. Die Zuschauer/innen wurden mit ihren eigenen Stereotypen konfrontiert und konnten durch persönliches Kennenlernen Ängste und Vorurteile abbauen, die häufig aus Unkenntnis entstehen.

Darüber hinaus sind etliche Freundschaften zwischen Leipziger/innen und Asylsuchenden entstanden. Auch die Deutschkenntnisse haben sich bei einigen Teilnehmer/innen im Laufe des Projektes rasant verbessert.

Perspektiven

Aufgrund des großen Interesses seitens der Bevölkerung und vor allem der Projektteilnehmer/innen wird das Projekt fortgeführt. So fanden Ende April 2015 weitere Vorstellungen in Leipzig statt. Zudem gab es im Mai 2015 eine Ausstellung, die den Prozess des Projektes dokumentierte.

Direkt im Anschluss der Performance gingen zudem Anfragen von Menschen aus anderen Städten ein, die das Projekt gerne vor Ort verwirklicht sehen wollen. Der Kontakt zu diesen Organisationen und Initiator/innen wird ausgebaut und eine Fortsetzung der »reisegruppe heim-weh!« ist für 2016 in anderen Städten angedacht.

Kontakt und weitere Informationen

Cammerspiele Leipzig e.V.
Clara Minckwitz, Julia Lehmann
Kochstraße 132
04277 Leipzig
E-Mail: reisegruppe.projekt(at)gmail.com
Web: reisegruppeheimweh.tumblr.com,
www.cammerspiele.de

Fotos: Alina Simmelbauer

Ansprechpartner für das Programm »Werkstatt Vielfalt«

Björn Götz-Lappe & Timo Jaster
Stiftung Mitarbeit
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