Projekt des Monats (03/2019)

»UnVergessen« – Ein intergeneratives Projekt zur Mehrsprachigkeit im Alter

Das intergenerative und kulturspezifische Projekt schaffte Begegnungsräume zwischen Studierenden der Ruhr-Universität Bochum (19 bis 27 Jahre, mit russischen oder polnischen Sprachkenntnissen)und pflegebedürftigen russisch- bzw. polnischsprachigen Senior/innen in Pflegeeinrichtungen. Die Studierenden besuchten die Senior/innen individuell in ihrer Pflegeeinrichtung und übernahmen dabei Hilfestellungen im sprachlichen Bereich: Im Zuge regelmäßiger Termine knüpften die Teilnehmer/innen Kontakte, bauten ein Vertrauensverhältnis auf und wirkten der sozialen Isolierung infolge eines alters- bzw. krankheitsbedingten Verlusts der deutschen Sprachkenntnisse auf Seiten der Senior/innen entgegen. Das Projekt begegnete damit der Herausforderung, eine angemessene und kultursensible Pflegesituation für ältere Migrant/innen zu ermöglichen. Aus dem Projekt resultierten verschiedene kleinere und größere Forschungsarbeiten der Studierenden.

Der demografische Wandel und die Migration nach Deutschland in den letzten Jahrzehnten bringen es mit sich, dass auch in deutschen Pflegeheimen zunehmend mehrsprachige Bewohner/innen leben. Somit werden diese Einrichtungen immer mehr zu multilingualen Orten, an welchen – auch krankheitsbedingt – das Bedürfnis nach Kommunikation in der eigenen Muttersprache wächst. Dieses kann jedoch häufig aufgrund der Vielfalt an Sprachen und des hohen Arbeitspensums des Pflegepersonals nicht gedeckt werden. Eine Folge dessen ist eine zunehmende sprachliche, kulturelle und soziale Isolierung der entsprechenden Pflegebedürftigen. An diesem Punkt setzt das Projekt UnVergessen an, in dessen Rahmen mehrsprachige Studierende in unterschiedlichen Pflegeheimen Bochums Pflegebedürftige mit russischer oder polnischer Herkunft besuchten und sie sprachlich begleiteten.

Das Projekt UnVergessen wurde im Wintersemester 2016/17 von Dr. Katrin B. Karl am Seminar für Slavistik/Lotman-Institut an der Ruhr-Universität Bochum ins Leben gerufen. Mittels institutseigener Werbung und durch die Verankerung des Projekts im universitären Curriculum wurden Studierende mit russischen und polnischen Sprachkenntnissen adressiert.

Erste Runde

Das Projekt startete zunächst mit einem Vorbereitungsseminar, in welchem sich die Studierenden mit den Themen Alter, Mehrsprachigkeit, Migration, Krankheit (v.a. Demenz) und Pflegeheim auseinandersetzten. Dieses Seminar bot Einblicke in den aktuellen Forschungsstand und bereitete auf die Begegnung mit den Pflegebedürftigen vor. Parallel zur universitären Veranstaltung wurden mit einem Informationsschreiben nach interessierten Pflegeheimen im gesamten Bochumer Umfeld (inkl. Dortmund, Essen, Recklinghausen und Herne) gesucht. Alle kontaktierten Pflegeheimleitungen begegneten der Projektidee sehr positiv und es wurden schließlich zehn russisch- bzw. polnischsprachige Pflegebedürftige aus verschiedenen Einrichtungen für die Teilnahme am Projekt ausgewählt.

Damit konnten die Treffen in den Pflegeeinrichtungen starten. Die Studierenden besuchten die Senior/innen regelmäßig im Verhältnis eins zu eins. Einige Studierende tragen mehrere Pflegebedürftige. Sie verbrachten gemeinsame Zeit und tauschten sich in der jeweiligen Muttersprache der Pflegebedürftigen aus. So konnten diese ihre Erstsprache aktiv anwenden, während die Studierenden Einblicke in den Pflegealltag gewannen und ihre sozialen Fähigkeiten sehr praxisnah ausbauen konnten. Daneben berichteten die Studierenden von der positiven Erfahrung, die eigenen Sprachkenntnisse sinnvoll anzuwenden und deutlich mehr sprachliche Sicherheit zu gewinnen – gerade in der Kommunikation mit Älteren, die bewusster, langsamer und lauter abläuft.

Die Treffen selber waren höchst individuell ausgestaltet und hingen stark von gesundheitlichen Aspekten und persönlichen Interessen ab. In einem Fall wurde ein an Parkinson erkrankter Patient begleitet, der sich im Endstadium der Krankheit nur noch über Kopfnicken oder kurze Äußerungen mitteilte. In anderen Fällen entwickelten sich lebhafte und anregende Gespräche, über z.T. auch tiefe fachliche Inhalte. Eine ältere Teilnehmerin war z.B. früher als Psychologin tätig und berichtete sehr gerne von ihren Erfahrungen und ihrem fundierten Wissen. In den meisten Fällen hatten die Studierenden mit dementiell veränderten Pflegebedürftigen zu tun, was die Kommunikation z.T. stark prägte. So war es eine der Herausforderungen, stets aufs Neue herauszufinden, in welcher Zeit und an welchem Ort sich die Person gerade gedanklich befand oder auch in welchem Grad sie sich an die Besuche erinnerte.

Zu den vielfältigen Themen, die von den Pflegebedürftigen eingebracht wurden, zählten neben Gesprächen über Familienmitglieder und Familiengeschichte(n) etwa auch der Austausch über Politik. Die Studierenden nannten das Projekt »ihre Herzensangelegenheit« und hatten den Eindruck, dass sie den Bewohner/innen dabei helfen konnten, ihre Vergangenheit aufzuarbeiten. Eine Teilnehmerin machte das unter anderem daran fest, dass sie mit einem Bewohner auf Polnisch über dessen Kriegserlebnisse sprechen konnte. Da der Bewohner über das Erlebte nur in seiner Muttersprache berichtete, war ihm der Austausch mit Anderen vor den Besuchen der Studentin nur eingeschränkt möglich.

Auch das Pflegepersonal der verschiedenen Einrichtungen nahm das Projekt »UnVergessen« als Bereicherung und Entlastung wahr. So profitierten die Mitarbeiter/innen davon, dass die Besuche der Studierenden einige Pflegedürftige wieder »aktivierten«. So erinnerte sich ein Demenzerkrankter an die Besuche »seiner« Studentin und begann, nach ihr zu fragen. Eine zweite dementiell veränderte Person blühte regelrecht auf und veränderte sich von einer stillen Beobachterin in eine kommunikative Person, die gerne sang. In einem Gespräch teilte die Pflegeheimleitung mit, dass sie sehr dankbar für die Betreuung eines Parkinsonpatienten ist, da das Pflegepersonal nun endlich einen Zugang zu ihm gefunden hat. Der Student hatte nämlich durch seine Nachfragen und Ausprobieren herausgefunden, dass der Pflegebedürftige gerne Musik hörte und dabei auch einige seiner Lieblingsmusiker ermittelt. Ebenso brachte der Student in Erfahrung, dass der Pflegebedürftige stark gläubig ist – seither wurde ihm regelmäßig aus der Bibel vorgelesen.

Insgesamt trafen sieben Studierende über den Zeitraum von sechs Monaten zumeist wöchentlich auf neun Pflegebedürftige im St. Marienstift, im Buchen-Hof des Evangelischen Johanneswerks und im »Haus am Glockengarten« der SBO Senioreneinrichtungen. Die Besuche wurden bis zum Ende des Sommersemesters durchgeführt. Die Studierenden dokumentierten sie und arbeiteten sie in regelmäßigen Sitzungen in der Gesamtgruppe der Studierenden auf.

Im Sommersemester trugen die studentischen Teilnehmer/innen ihre Erfahrungen aus den Gesprächen mit den Senior/innen zusammen, evaluierten diese und arbeiteten sie auf. Eine ursprüngliche geplante Quartiersanalyse wurde aufgrund der begrenzten Mobilität der Pflegebedürftigen verworfen. Eine Gruppe setzte sich stattdessen mit konkreten Fragen der sprachlichen Situation der Pflegebedürftigen auseinander und entwickelte einen Sprachtest. Eine zweite Gruppe beschäftigte sich gründlicher mit der Frage, wie die Pflegeheime und die dort arbeitenden Pflegekräfte das Projekt wahrgenommen haben. Und eine dritte Gruppe von Studierenden setzte sich mit der Frage auseinander, wie die bisherigen Ergebnisse und Tätigkeiten einem breiteren Publikum vorgestellt werden können. Mit einer Ausstellung, die auf dem Uni-Campus zu sehen war, präsentieren die Teilnehmer/innen schließlich ihre Arbeit im Projekt. Die Ausstellung informierte über die Projektinhalte und animierte zur Teilnahme an der Fortsetzuung von »UnVergesssen«.

Weitere Projektrunden

Ab dem Wintersemester 2017/2018 startete das Projekt, das von allen Seiten viel positive Resonanz erhalten hatte, in die zweite Runde. Die Treffen der intergenerativen Tandems wurden wieder selbstständig von den Studierenden und den Pflegebedürftigen gestaltet und auch gemeinsame Aktivitäten unternommen. Unter anderem gingen die Teilnehmer/innen auf gemeinsame Spaziergänge oder spielten verschiedene Gemeinschaftsspiele. Die Studierenden verfolgten die wissenschaftliche Aufarbeitung des Projekts in dieser Runde etwa mit Sprachstandserhebungen.  Bei der Weiterführung des Projektes ab dem Wintersemester 2018 lag der Fokus weiterhin auf der russischen und polnischen Sprache. Jedoch machten Gespräche mit den kooperierenden Pflegeeinrichtungen deutlich, dass auch andere Sprachkenntnisse, allen voran Englisch und deutsche Dialekte, gefordert sind.

Einige Teilnehmer/innen fertigten aus der Mitwirkung am Projekt heraus Abschlussarbeiten an oder entwickelten Dissertationsthemen. Auch im wissenschaftlichen Bereich erfuhr das Projekt schnell Resonanz. Ein Vortrag der Projektleitung im Rahmen eines jährlich stattfindenden Kolloquiums zur Mehrsprachigkeit löste unter den teilnehmenden Forscher/innen die Debatte aus, ob nicht eine Perspektive ihrer Forschungsausrichtung in eben jener Neuorientierung zum Thema »Alter und Mehrsprachigkeit« liegen könne.

Kontakt und weitere Informationen

Ruhr-Universität Bochum
Seminar für Slavistik/Lotman-Institut
Universitätsstraße 150
44801 Bochum
Ansprechperson: Dr. Katrin Bente Karl
Web: un-vergessen.de
Mail: katrin.karl(at)rub.de

Ansprechpartner für das Programm »Werkstatt Vielfalt«

Björn Götz-Lappe & Timo Jaster
Stiftung Mitarbeit
Am Kurpark 6
53177 Bonn
Tel. (02 28) 6 04 24-12/-17
Fax. (02 28) 6 04 24-22
E-Mail:goetz-lappe(at)mitarbeit.de
jaster(at)mitarbeit.de