Projekt des Monats (03/2020)

»Viertelperspektiven« – Blickwinkel von Jung & Alt

In diesem intergenerativen Projekt unternahmen Kinder und Jugendliche im Samtweberviertel in Krefeld zusammen mit Senior/innen Erkundungsspaziergänge durch das Quartier. Zu insgesamt sechs Terminen trafen sich Teilnehmer/innen aus beiden Altersgruppen und dokumentierten Motive und Orte in der Nachbarschaft, die sie aus ihrer Perspektive als bedeutsam empfanden. Sie fotografierten mit dem Tablet-PC, dem Smartphone und der kostenfreien App #Stadtsache. Die Anwendung ermöglicht es, niedrigschwellig Bilder und Texte in einen digitalen Stadtplan einzupflegen und für andere Nutzer/innen der App auffindbar zu machen. Auf diesem Wege entstanden digitale Sammlungen und Empfehlungen für Stadtspaziergänge und Entdeckungstouren. Begleitet und angeleitet wurden die intergenerativen Quartiersrundgänge von Studierenden des Fachbereichs Design der Hochschule Niederrhein.

Im Samtweberviertel macht sich eine kleine Gruppe junger und älterer Krefelder/innen zu einem gemeinsamen Spaziergang durch das Quartier auf. Dabei haben sie einen Tablet-Computer, mit dem die Gruppe immer wieder Fotos von Häuserfassaden, Graffitis, Mülleimern und anderen Details im Stadtraum macht. Hin und wieder zücken einzelne Gruppenmitglieder ihr eigenes Smartphone und halten Eindrücke fest. Solche Quartierspaziergänge waren das Kernstück des generationenübergreifenden Projektes »Viertelperspektiven« der Hochschule Niederrhein. Kinder und Jugendliche unternahmen darin zusammen mit älteren Bewohner/innen und Nachbar/innen aus dem zentral in Krefeld gelegenen Samtweberviertel Stadterkundungen und zeigten einander ihr Viertel mit all seinen Besonderheiten und Qualitäten – aber auch mit seinen weniger schöne Seiten.

Begleitet und angeleitet wurden die Quartiersrundgänge von Studierenden aus dem Fachbereich Design der Hochschule Niederrhein. Die Projektleitung lag beim Kompetenzzentrum Social Urban Design. Während der Stadtraumerkundungen dokumentierten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer Orte, Details und Eigenschaften des Stadtquartiers, die für sie persönlich und für die Lebensqualität im Viertel besonders bedeutsam sind.

Mit App-Unterstützung zur interaktiven Stadtkarte

Zur Dokumentation wurde den Gruppenmitgliedern die von der Landesinitiative StadtBauKultur NRW unterstützte #stadtsache-App zur Verfügung gestellt: Die Smartphone-Anwendung ermöglicht es, unkompliziert Bilder in digitale Stadtteilkarten hochzuladen, zu verorten, sie nach Themen zu sortieren und unmittelbar mit Skizzen, Text- oder Sprachanmerkungen zu ergänzen. So war es möglich, Motive direkt vor Ort festzuhalten und noch während der Spaziergänge zu editieren. Anhand ihrer Geopositionen konnten die Motive später in der digitalen Stadtkarte der App gefunden und aufgerufen werden.

Das Projektteam testete zunächst in einer Pilotphase das Konzept für die Kiezspaziergänge und die Arbeit mit der App. Trotz einzelner Schwierigkeiten bei der Gewinnung von Teilnehmenden kamen im Projektverlauf immer wieder neue Interessierte dazu – teilweise von Teilnehmer/innen des Pilotdurchgangs zur Teilnahme motiviert. Denn manche ältere Teilnehmer/innen aus der ersten Projektphase begleiteten das Team auch bei weiteren Rundgängen. Für die Jugendlichen war mitunter das Wetter entscheidend für eine verbindliche Teilnahme: So machte das Projektteam die Erfahrung, dass schönes Wetter die Jüngsten nicht unbedingt zum Spaziergang motivierte – im Gegenteil: einzelne Jugendliche entschlossen sich in einem Fall sogar kurzfristig dazu, den schönen Tag anderweitig zu nutzen.

Trotz dieser vereinzelten Hindernisse konnten fünf weitere ein- bis zweistündige Stadtteilrundgänge mit Teilnehmer/innen zwischen 8 und 100 Jahren umgesetzt werden. Die jeweils unterschiedlich zusammengesetzten Kleingruppen haben dabei insgesamt 6,28 km Wegstrecke quer durch das Viertel zurückgelegt und hielten dabei rund 160 Motive fest.

Bei den gemeinsamen Spaziergängen im Viertel zeigte sich schnell, dass die Genegrationen durchaus unterschiedliche Blickwinkel auf die Nachbarschaft einnahmen. Während die jüngeren Teilnehmer/innen sich für Streetart, Graffitis, im Stadtraum verteilte Aufkleber und andere öffentliche »Verschönerungsaktionen« begeistern konnten, blickten manche Ältere mit kritischem Auge auf das Samtweberviertel. So kannten die Senior/innen das Viertel seit vielen Jahren oder gar Jahrzehnten und es ergaben sich für sie immer wieder Gelegenheiten, den anderen zu erläutern, wie ein Häuserblock, eine Straßenecke oder eine Kreuzung früher einmal ausgesehen hatte. Die Jüngeren lernten so die geschichtlichen Zusammenhänge in ihrem Stadtteil kennen und konnten über diese persönlichen Erinnerungen die Entwicklung ihres Stadtteils besser nachvollziehen. Ein Beispiel hierfür war das alte Krefelder Stadtbad in der Neusser Straße: Einst eines der schönsten Jugendstilbadehäuser, ist es heute – halb verfallen und fast vergessen – nur noch Eingeweihten oder Alteingesessenen ein Begriff.

Die Seniorinnen und Senioren lernten wiederum im Dialog mit der jüngeren Generation die Veränderungen im Viertel neu zu schätzen und sahen die Welt aus einer anderen Perspektive. So einigten sich alle schnell darauf, dass kreative Straßenkunst und unterhaltsame Sticker eine willkommene Abwechslung im Stadtbild sein können. Auch die Bestrebungen, das historische industrielle Erbe des Viertels mit modernen und alternativen Wohn- und Arbeitsformen weiterzuführen, gefiel Jung und Alt. So ist in den Mauern der früheren Samt- und Seidenweberfabrik an der Ecke Lewerenzstraße/Tannenstraße in den letzten Jahren – zum Teil öffentlich gefördert und preisgebunden – neuer Wohnraum entstanden. Ein »Nachbarschaftszimmer« und eine Shedhalle – ein großer überdachter und öffentlich zugänglicher Freiraum für nachbarschaftliche Nutzungen – bieten Nachbarschaftsinitiativen Platz für Ideen und Projekte.

Ein ungewöhnlicher Ausstellungsort

Bei der abschließenden Ausstellung kam dem  Projektteam der Zufall zur Hilfe. Studierende des Fachbereits Design hatten sich in einem vorangegangenen Semester mit einem Anliegen der benachbarten Kirchengemeinde Papst Johannes XXIII. auseinandergesetzt: Die Gemeinde suchte (säkulare) Umnutzungsszenarien für die Kirche St. Josef, die im Samtweberviertel einen zentralen Ort markiert. Dies brachte die Projektverantwortlichen auf die Idee, die geplante Ausstellung der »Viertelperspektiven« in der Kirche zu zeigen.

Die Eindrücke und Erkenntnisse aus den Projektterminen wurden für eine digital-analogen Ausstellung aufbereitet. Um den weiteren Austausch anzuregen, wurde die Ausstellung so angelegt, dass sie über eine reine Dokumentation der gesammelten Eindrücke hinausging und die Besucherinnen und Besucher als Akteure einband. Exponate konnten bewertet und kommentiert werden, einzelne Stationen luden dazu ein, selbst das Viertel zu erkunden oder eigene Beobachtungen zu verorten. Daneben gab es verschiedene Möglichkeiten, die #stadtsache-App und ihre Funktionen kennenzulernen. Um im Inneren des Kirchenraumes eine urbane Stimmung zu erzeugen, wurde nachträglich eine Soundcollage mit Geräuschen aus dem Viertel zusammengestellt und während der Öffnungszeiten abgespielt. Anknüpfend an die bereits durchgeführten Stadtraumerkundungen wurde ein zusätzlicher Rundgang während der Ausstellungszeit angeboten. Auf diese Art wurde die digitale Sammlung von Motiven durch weitere Beteiligte vergrößert.

Es gelang mit der Ausstellungseröffnung die Ergebnisse der Projektgruppen zu würdigen, die Auseinandersetzung mit dem Viertel zu stärken und zur Selbsterfahrung zu motivieren. Nach der zweiwöchigen Ausstellungsphase in St. Joseph, zog der analoge Teil der Ausstellung in die Shedhalle der Urbanen Nachbarschaft Samtweberei um, wo dieser für einige weitere Monate ausgestellt wurde.

Erfolge und Wirkungen

»Viertelperspektiven« leistete einen Beitrag zur Quartiersentwicklung des Samtweberviertels in Krefeld indem die Wahrnehmung des Quartiers gleichermaßen aus den Blickwinkeln von Jugendlichen und Senior/innen dokumentiert und zugänglich gemacht wurde. Das Projekt führte Nachbar/innen zusammen und bot ihnen die Gelegenheit, ihr Viertel besser kennen und wertschätzen zu lernen. Alltägliches und scheinbar Banales wurde durch die Verknüpfung mit persönlichen Betrachtungen und Erinnerungen beachtenswert und bedeutsam. So veränderte sich der Blick auf das eigene Viertel hin zum Positiven und Liebenswerten.

Kontakt und weitere Informationen

Hochschule Niederrhein – Fachbereich Design
Prof. Nicolas Beucker
Frankenring 20
47798 Krefeld
E-Mail: nicolas.beucker(at)hs-niederrhein.de
Web: sound.hs-niederrhein.de  

Ansprechpartner für das Programm »Werkstatt Vielfalt«

Björn Götz-Lappe & Timo Jaster
Stiftung Mitarbeit
Am Kurpark 6
53177 Bonn
Tel. (02 28) 6 04 24-12/-17
Fax. (02 28) 6 04 24-22
E-Mail:goetz-lappe(at)mitarbeit.de
jaster(at)mitarbeit.de