mitarbeiten (4/1996)

Die Bereitschaft zu freiwilligem Engagement ist größer denn je

Die Leistungsfähigkeit des Sozialstaates scheint erschöpft, der Staat garantiert immer weniger Hilfe in den unterschiedlichen Notlagen, in denen die Alltagssolidarität nicht vorhanden oder aufgebraucht ist. Zugleich scheinen Solidarität und Gemeinsinn zu schwinden, die Gesellschaft scheint in isolierte Interessengruppen und in atomisierte Einzelne zu zerfallen, die jeweils lediglich ihr eigenes Interesse im Auge haben und kein Gespür mehr für gemeinsame Aufgaben und Verantwortungen entwickeln. Läßt sich »Solidarität inszenieren«? Welchen Beitrag können Freiwilligen-Agenturen in der Praxis leisten? Auf Einladung der Stiftung Mitarbeit und der Heinrich-Böll-Stiftung informierte eine Fachtagung über neue deutsche und europäische Ansätze der Förderung freiwilliger Arbeit.

Die Analyse der Solidaritätsressourcen in der bundesrepublikanischen Gesellschaft ergibt für Prof. Dr. Heiner Keupp (Uni München) keineswegs den Befund, daß die sich zunehmend individualisierende Gesellschaft notwendigerweise isolierte und  vereinsamte Ego-Menschen erzeugt. Vielmehr existieren in der Gesellschaft hohe Potentiale für solidaritätsfördernde Netze. Insbesondere die vielfältigen Lösungsansätze des bürgerschaftlichen Engagements, die als Bürgergruppen, Initiativen und zeitlich befristete Projekte neue Möglichkeiten zur Lösung gesellschaftlicher und sozialer Anliegen suchen, stellen eine neuartige Form der sozialen Vernetzung im Alltag dar.

Auslösendes Moment der neuen Formen des freiwilligen Engagements sind häufig persönliche Betroffenheit und der Wille, als ungerecht erlebte Zusände zu verändern. In überschaubaren Kleingruppen erleben die Menschen soziale Gemeinschaft und erfahren, daß das eigene Engagement wichtig ist und gebraucht wird.

Wer diese neuartigen Formen des Bürgerengagements fördern will, darf sich nicht auf moralische Appelle beschränken. Vielmehr müssen Angebote gemacht werden, die den unterschiedlichen Interessen und den neuen Formen des  Engagements entsprechen. Freiwillige Arbeit ist attraktiv, wenn gesellschaftliche Voraussetzungen und organisatorische Rahmenbedingungen den persönlichen Bedürfnissen entsprechen: Menschen engagieren sich dann, wenn sie die Möglichkeit haben, gestellte Aufgaben kreativ zu lösen, wenn sie ihre Zeit flexibel einteilen können und wenn sie reale Einfluß- und Gestaltungsmöglichkeiten haben.

Daß das »Handeln in Gemeinschaft zur Quelle der Selbstverwirklichung« wird, wie es Prof. Dr. Heiner Keupp beschreibt, bestätigt sich in der täglichen Arbeit des Treffpunkts Hilfsbereitschaft in Berlin, der Freiwilligenagentur in Bremen und des Zentrums für Freiwilligenarbeit in Dortmund. Die drei Freiwilligenagenturen, die sämtlich organisationsunabhängig arbeiten, beraten Menschen, die sich engagieren möchten, aber keinen eigenständigen Zugang zu Organisationen finden können oder wollen. Durch Öffentlichkeitsarbeit und Lobbying vertreten die Freiwilligenagenturen die Interessen der bürgerschaftlich Engagierten und werben bei Organisationen dafür, mit freiwilligen Mitarbeiter/innen bewußter umzugehen.

Während in der Bundesrepublik die unbürokratische und kontinuierliche Unterstützung des freiwilligen Engagements noch weitgehend unentwickelt ist, gibt es beispielsweise in den Niederlanden ca. 150 Freiwilligenberatungsstellen, von denen einige bereits seit  25 Jahren bürgerschaftliche Teilhabe unterstützen. Hilfsbereiten Bürger/innen gelingt dort durch ihr Engagement der Einstieg in interessante Arbeitsfelder der Sozial- und Jugendarbeit, der Kulturarbeit und des Umweltschutzes. Auch in der Schweiz hat man – beispielsweise durch neue Finanzierungsmodelle – innovative Wege zur Förderung der freiwilligen Tätigkeit eingeschlagen.

Daß auch die Politik die Notwendigkeit sieht, die Prioritäten in Sachen Förderung der Freiwilligenarbeit neu zu setzen, bewies eine Diskussionsrunde im Rahmen der Tagung. Insbesondere der »International Volunteers Day« eigne sich dazu, den gesellschaftlichen Wert der Freiwilligenarbeit öffentlich zu machen.  Nach Meinung von Henk Kinds aus den Niederlanden zeige der Vergleich mit den europäischen Nachbarländern, daß ein weitaus größerer Anteil der Bevölkerung für freiwillige Tätigkeiten gewonnen werden kann, wenn Unterstützungsstrukturen auf lokaler Ebene – wie beispielsweise Freiwilligen-Agenturen – vorhanden sind.

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