mitarbeiten (1/1998)

Ideen für eine neue Zeitpolitik

Es ist paradox. Während mehrere Millionen Menschen als Erwerbslose aus dem Arbeitsmarkt gedrängt werden, bleibt vielen Berufstätigen immer weniger Zeit für gewünschtes Engagement in Familie und Gesellschaft. Wie können wir aus diesem Dilemma herauskommen, Erwerbsarbeit gerechter verteilen und Zeit so organisieren, daß mehr »Humanzeit« für zwischenmenschliches, soziales und gesellschaftliches Engagement bleibt?

Wenn die oberen Gehaltsgruppen auf 10% Gehalt verzichten und 10 % weniger arbeiten und die mittleren entsprechend um 5% heruntergehen würden, könnten alleine im öffentlichen Dienst 300.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, rechnete der Berliner Politologe Professor Peter Grottian vor. Grottian, der selbst – als einer von 110 unter ca. 37.500 Hochschullehrern – seine Arbeitszeit um ein Drittel verkürzt hat, um damit Arbeitsplätze für Kolleg(inn)en zu schaffen, sieht in Arbeitszeitverkürzung nicht nur einen wichtigen Schritt zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, sondern auch einen Beitrag zu einer menschlich-solidarischeren Gesellschaft.

Daß Arbeitszeitverkürzung nicht alleine eine ökonomische Frage ist, unterstrich auch seine Kasseler Kollegin Prof. Christel Eckart. Voraussetzung sei ein neues Verhältnis von heute bezahlter Erwerbsarbeit und unbezahlter Nicht-Erwerbsarbeit und damit ein Wandel der Geschlechtsrollen. Teilzeitarbeit gelte nach wie vor als »weiblich«; Tarifpolitik und betriebliche Interessenvertretung basierten unverändert auf dem Modell des »männlichen Normalarbeiters«.

Wie langsam sich die Geschlechtsrollen in der Praxis wandeln, konnte auch Eberhard Köhler von der Europäischen Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen in Dublin anhand langjähriger internationaler Zeitbudgetstudien nur bestätigen.

Dennoch gibt es aber auch ermutigende Gegenbeispiele. Die Aachener Soziologin Anette Gerhard etwa stellte eine Studie über Zeitpioniere vor, die aufgrund individueller Entscheidung bereits neue Wege der besseren Vereinbarkeit von beruflicher und außerberuflicher Aktivität gehen. Eine ganz andere Art von Zeitpionieren sind die Mitglieder des Vereins zur Verzögerung der Zeit (vgl. mitarbeiten 2/97), über dessen Arbeit Jürgen Adam informierte. Sie wollen mit paradoxen Interventionen zu einem menschlich angemesseneren Umgang mit der Zeit in unserer Gesellschaft anregen. Elfriede Wiech zeigte am praktischen Beispiel der Ulm-Wiblinger Solidargemeinschaft der Generationen, wie sich Angehörige unterschiedlicher Generationen gegenseitig unterstützen können, wenn sie sich Zeit in unterschiedlichen Lebensphasen freiwillig zur Verfügung stellen.

Daß mitarbeiterorientierten Zeitstrukturen im Unternehmensbereich wachsende Bedeutung beigemessen wird, machte Gaby Wilms von der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung deutlich. Sie stellte das Modellprojekt »Familienorientierte Personalpolitik« vor, an dem sich eine Reihe namhafter Firmen beteiligen. Elisabeth Rappen von der Fa. Henkel berichtete über die Anstrengungen ihres Unternehmens, das außerberufliche Engagement seiner Angestellten zu unterstützen.

Auch Klaus Peren von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände befürwortete flexible Arbeitszeitstrategien. Diese müßten jedoch individuell und betrieblich vereinbart werden und dürften keinesfalls zu zusätzlichen finanziellen Belastungen der Unternehmen führen. Demgegenüber vertraten, mit ganz unterschiedlichen Akzentuierungen, die Vorsitzende der Deutschen Hausfrauengewerkschaft, Wiltraud Beckenbach, und Klaus Anders von den Eltern für aktive Vaterschaft den Standpunkt, daß vor allem auch Gesellschaft und Politik gefordert seien, endlich für eine angemessene Anerkennung bzw. Gleichstellung von Familien- gegenüber Erwerbsarbeit zu sorgen.

Die Berliner Zeitforscherin Dr. Christiane Müller-Wichmann plädierte für sozial- und umweltverträgliche Zeitstrukturen mit einem wohl abgewogenen Verhältnis zwischen Güter- und Zeitwohlstand, »damit nicht viele keine Arbeit und wenige vor lauter Arbeit kein Leben mehr haben«.

Ein Materialienband zur Tagung wird im Mai bei der Stiftung MITARBEIT erscheinen. Wie zentral die bei der Tagung diskutierten Fragen für die Zukunft unserer Gesellschaft sein werden, zeigt auch der soeben erschienene neue Bericht an den Club of Rome »Wie wir arbeiten werden« von Otto Giarini und Patrick M. Liedtke (Verlag Hoffmann und Campe).

Weitere Themen

  • <LINK 146>Grenzen des Mehrheitsprinzips</LINK>
  • <LINK 147>Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen</LINK>