mitarbeiten (4/1998)

Neue Chancen für die Direkte Demokratie?

Zum dritten Mal luden die Stiftung MITARBEIT und die Evangelische Akademie Loccum wieder zu einer Bundestagung »Modelle der lokalen Bürgerbeteiligung« ein. Zu den neu vorgestellten Projekten gehörten diesmal u.a.: die Bürgermoderator(inn)en aus Leipzig, die gemeinwesenorientierte Bürgerbeteiligung als Mittel der Wirtschaftsförderung im Landkreis Güstrow, ein Projekt der Landesarbeitsgemeinschaft Soziale Brennpunkte Hessen zur Aktivierung von Frauen in der Stadtteilentwicklung sowie die Zukunftskonferenz Viersen. Am zweiten Tag hatten die ca. 150 Teilnehmenden aus Kommunalpolitik, Bürgerinitiativen und anderen Fachinstitutionen im Rahmen eines ganztägigen Open Space-Verfahrens Gelegenheit, sich in mehr als 30 rotierenden Kleingruppen mit unterschiedlichen methodischen Ansätzen und inhaltlichen Fragestellungen der Bürgerbeteiligung zu befassen und zugleich die Methode Open Space einmal in der Praxis kennenzulernen.

Einen besonderen Schlußpunkt setzte eine Diskussion über Chancen und Grenzen der Direkten Demokratie mit dem Schweizer Nationalrat und Politikwissenschaftler Professor Andreas Gross. Gross, gleichermaßen überzeugter Europäer wie leidenschaftlicher Verfechter der Idee der Direkten Demokratie, begrüßte ausdrücklich die vielen auf der Tagung präsentierten konsultativen Beteiligungsmöglichkeiten. Ihre volle Wirkung könnten sie aber nur entfalten, wenn mündige Bürgerinnen und Bürger einen Rechtsanspruch hätten, eine Abstimmung über ihre Ergebnisse herbeizuführen. Nicht-institutionalisierte könnten institutionalisierte Formen der Partizipation nicht ersetzen.

Die Bürgerinnen und Bürger verfügten über Handlungs- und Urteilsfähigkeiten, deren Potentiale bei einem auf alle vier Jahre beschränkten Wahlrecht unausgeschöpft blieben. Die Schere zwischen den demokratischen Fähigkeiten der Bürgerinnen und Bürger und den ihnen angebotenen partizipativen Möglichkeiten sei auch ein Grund für die vielfach beklagte Politik(er)verdrossenheit.

Keineswegs bedeute Direkte Demokratie, daß die Bürgerinnen und Bürger jedes Wochenende zur Abstimmung gerufen würden. Vielmehr seien gerade auch die mittelbaren Effekte, etwa durch frühzeitigere Einbeziehung der Bürgerinnen Bürger zu einem breiten Konsens zu gelangen, zu sehen. Direkte Demokratie trage zu einer politischen Kultur bei, in der sich Bürgerinnen und Bürger weit weniger von den Politiker(inne)n entfremdeten als in rein repräsentativen Demokratien ohne diese Partizipationsrechte.

Es sei daher falsch, Direkte Demokratie auf lokale oder regionale Ebene beschränken zu wollen. Sie sei gerade auf nationaler und in Zukunft auch auf transnationaler Ebene notwendig, um breite Diskussionen über zentrale Zukunftsfragen anzuregen.

Deutlich unterschied Gross zwischen direkter und plebiszitärer Demokratie. In einer plebiszitären Demokratie würden Volksentscheide von oben zur Beschaffung von Legitimation und Loyalität eingesetzt. Direkte Demokratie bedeute dagegen, daß Volksabstimmungen von unten, durch ein bestimmtes Quorum der Bevölkerung, herbeigeführt werden können. »Unmittelbare Demokratie heißt, daß Menschen selbst entscheiden können, wann sie entscheiden möchten.«

Fanden die Ausführungen zu Bürgerentscheiden für die kommunale Ebene breite Zustimmung, so war das Echo hinsichtlich der Übertragbarkeit auf die nationale Ebene nicht ungeteilt. Gewarnt wurde vor populistischen Entscheidungen und der Dominanz organisations- und damit kampagnestarker Interessen. Gross hielt dem letzteren jedoch die Schweizer Erfahrungen entgegen und sieht gerade in der offen geführten Auseinandersetzung eine Chance der politischen Aufklärung. Massiv wandte er sich gegen den Vorschlag höherer Zustimmungs- oder Entscheidungsquoren. Diese belohnten in Wahrheit bloß politische Passivität.

In Deutschland macht sich seit vielen Jahren besonders die Initiative Mehr Demokratie e.V. für die Direkte Demokratie stark. In vielen Bundesländern war sie inzwischen erfolgreich. Nächstes Ziel ist der bundesweite Volksentscheid. Die Chancen dafür stehen nicht schlecht, zumal die neue Bundesregierung in ihren Koalitionsvereinbarungen aufgenommen hat, eine Grundgesetzänderung zur Einführung von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid auf Bundesebene anzustreben.

Neben Mehr Demokratie e.V. haben vor Jahren schon das damalige Kuratorium für einen demokratisch verfaßten Bund Deutscher Länder und eine von der Stiftung MITARBEIT eingeladene Expert(inn)engruppe (sog. Hofgeismarer Entwurf) ausformulierte Gesetzentwürfe dafür vorgelegt.

Das Referat von Andreas Gross wird leicht gekürzt in der Ausgabe 1/1999 des Rundbriefs Bürgerbeteiligung der Stiftung MITARBEIT veröffentlicht werden. Die Adresse von Mehr Demokratie e.V. ist: Fritz-Berne-Straße 1, D-81241 München, Telefon: (0 89) 8 21 17 74; Telefax: (0 89) 8 21 11 76.

Der Hofgeismarer Entwurf kann bei der Stiftung MITARBEIT bestellt werden.

Weitere Themen

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