mitarbeiten (2/2001)

Diskussion mit Hildegard Hamm-Brücher – Brauchen wir eine »Demokratiepolitik«?

»Wenn unsere Verfassung nicht im Bewußtsein und in der Freude unseres Volkes lebendig ist, bleibt sie ein Stück Machtgeschichte von Parteikämpfen, die wohl nötig sind, aber nicht den Sinn der Verfassung erfüllen.« An diesen Satz von Theodor Heuss unmittelbar nach seiner ersten Wahl zum Bundespräsidenten erinnerte die Vorsitzende der Theodor-Heuss-Stfitung, Dr. Hildegard Hamm-Brücher, bei einer Diskussion mit dem Stiftungsrat der Stiftung MITARBEIT im Theodor-Heuss-Haus in Stuttgart. Die Diskussion stand unter dem Titel »Wozu wir eine Demokratiepolitik brauchen«.

Kein Zweifel, unser Parteiensystem steckt in einer Krise. Dies hat nicht erst die niedrige Beteiligung bei den jüngsten Landtags- und Kommunalwahlen deutlich gemacht. Die Zahl der Bürgerinnen und Bürger, die sich von den Parteien nicht vertreten fühlen, hat in den letzten Jahren dramatisch zugenommen. Viele trauen den Parteien die Lösung der großen gesellschaftlichen Zukunftsaufgaben nicht mehr zu. Zu der begründeten Kritik gesellt sich in Teilen der Bevölkerung eine pauschale Parteien-Aversion.

Dabei sind Parteien unverzichtbar und eine Säule unserer Demokratie. Eine ihrer wesentlichen Funktionen ist der Ausgleich zwischen unterschiedlichen Interessen und Standpunkten. Darin waren sich alle Teilnehmenden der Diskussion einig. Sie bedürfen aber der Reform und Erneuerung. Genau hierfür brauchen wir nach Auffassung Hildegard Hamm-Brüchers eine »aktive Demokratiepolitik«, die zwei Seiten haben müsse: »Einmal die Re–Novierung der repräsentativen Demokratie (...) und zum anderen die Stärkung des demokratischen Selbstverständnisses seiner Bürger, ihrer Rechte und Pflichten bei der Gestaltung ihres Verfassungsauftrages nach Artikel 20 des Grundgesetzes.«

Die Probleme der Parteien sind dabei keine deutsche Besonderheit, sondern gelten mehr oder weniger ausgeprägt für alle vergleichbaren repräsentativen Demokratien. Sie hängen mit erheblichen strukturellen Veränderungen der Gesellschaft zusammen. Zum einen funktionieren die traditionellen Politikkonzepte nicht mehr. Politik erscheint immer mehr als medial inszenierte »Folgenbearbeitung« – entweder präventiv oder kurativ – für an anderen Orten getroffene Entscheidungen. Zur Komplexität kommt die fortschreitende Differenzierung und Pluralisierung von Interessen, Lebensstilen und Positionen, die es immer schwerer machen, Meinungen über unterschiedliche Themen zu einem schlüssigen Gesamtkonzept zu bündeln.

Der Blick in andere Länder zeigt, dass diese Entwicklungen nicht unabänderlich sind. Schweden etwa widmet den Herausforderungen der Demokratie große Aufmerksamkeit. So wurde eine eigene Demokratieministerin berufen und ein landesweiten Ratschlag für Demokratie durchgeführt.

Klar scheint zu sein: Zum demokratischen Prinzip des Dialogs gibt es keine Alternative. Die traditionellen Formen der Anhörung aber genügen dafür nicht mehr. Die vermehrte Einrichtung von Kommissionen und Runden Tischen (auf Bundesebene z.B. Zuwanderungskommission, Energiekonsensgespräche, Wehrstrukturkommission, Bündnis für Arbeit usw.) ist ein sinnvoller Weg. Nicht unproblematisch bleiben andererseits die Auswahl der beteiligten Interessen, die fehlende Transparenz und der ungeklärte Stellenwert.

Vorbild für ein offenes und transparentes Verfahren könnten Schwedens »temporäre Behörden« und das Remißverfahren sein. Schwedens Gesetze und politische Handlungsprogramme werden traditionell in temporären, heterogen zusammengesetzten Fachkommissionen vorbereitet. Ihr Gutachten geht dann auf Remiß. Hieran können sich alle angeschriebenen, aber auch alle anderen Organisationen und Institutionen (und auch Einzelpersonen) binnen einer z.B. dreimonatigen Frist mit Stellungnahmen beteiligen. Die Stellungnahmen sind öffentlich einsehbar. Erst danach formuliert die Regierung ihren Vorschlag (Proposition) für das Parlament, in dem sie sich auch mit den eingegangenen Stellungnahmen auseinandersetzt.

Schwachstellen des schwedischen Systems sind sein manchmal etwas formaler Charakter und die Dominanz organisierter Interessen. Um sie auszugleichen, sind neue Formen des offenen Diskurses denkbar, wie sie in den letzten Jahren auf unterschiedlichen Ebenen gerade auch in Deutschland entwickelt worden sind. Ihnen gemeinsam sind neben dem Bemühen um einen breiten, zumindest für alle hinnehmbaren Konsens

  • die Hinzuziehung eines neutralen und externen Prozeßbegleitung,
  • der methodisch-strukturierte Ablauf,
  • die konkrete Aufgabenorientierung und damit verbunden
  • ein zumeist temporärer Charakter.

Beispiele hierfür sind die Mediation, die Zukunftskonferenz, die Konsensuskonferenz, die Planungszelle.

Solche neuen Formen des Dialogs wären wichtige Mosaiksteine von »Demokratiepolitik«. Sie bedürfen aber der Ergänzung durch vielfältige plebiszitäre Elemente auf allen Entscheidungsebenen, von einem erweiterten Petitionsrecht bis hin zur Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid auf Bundesebene, für die sich während des Gesprächs im Heuss-Haus u.a. der Bundestagsabgeordnete und Sprecher von Mehr Demokratie e.V. Gerald Häfner stark machte. Die Diskussion darüber ist auf Bundesebene gerade neu entfacht (vgl. mitarbeiten 4/2000).

Weitere Themen

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