mitarbeiten (2/2004)

Ein Begriff hat Konjunktur – Bürgergesellschaft als Prozess

Bürgergesellschaft und Zivilgesellschaft – die synonym gebrauchten deutschsprachigen Übersetzungen des angelsächsischen Begriffs »Civil Society« – sind zu Sympathiebegriffen geworden. Ob neoliberal oder kommunitaristisch, ob links oder rechts, was immer wir denken und wählen, eine aktive Bürgergesellschaft wünschen wir uns alle. Allerdings werden mit dem Begriff ganz unterschiedliche Vorstellungen verbunden.

Im Wegweiser Bürgergesellschaft der Stiftung MITARBEIT wird Bürgergesellschaft definiert als gesellschaftliche Selbstorganisation, oder präziser demokratische, gesellschaftliche Selbstorganisation, unabhängig vom Staat und außerhalb des Marktes.

Der Zusatz »demokratisch« macht deutlich, dass es auch Formen der Selbstorganisation gibt, die keineswegs demokratisch sind. Hierzu zählen alle Formen von Rassismus und Extremismus, Diskriminierung, Gewaltbereitschaft und Kriminalität. Wer die fundamentalen Menschen- und Bürgerrechte nicht anerkennt, ist kein Teil der zivilen Bürgergesellschaft. Mit »gesellschaftlich« ist gemeint, dass es nicht um rein private Aktivitäten, sondern um öffentliches Engagement geht. Die Einladung der Nachbarn zur privaten Geburtstagsfeier fällt nicht darunter, die Organisation von Nachbarschaftshilfe im Stadtviertel aber wohl.

Der Begriff hat lange historische Wurzeln. Die vermutlich erste Buchveröffentlichung zur »Civil Society« datiert bereits aus dem Jahr 1767 und stammt von dem schottischen Moralphilosophen Adam Ferguson. In seinem »Essay on the History of Civil Society« steht der Begriff für eine wünschenswerte Geisteshaltung, die alle Bereiche der Gesellschaft durchdringen solle.

Seinen heutigen Stellenwert erhielt der Begriff aber erst durch die Freiheits- und Demokratiebewegungen in Osteuropa seit der Charta ’77. Er wurde hier zum Schlüsselbegriff für das anti-diktatorische Bemühen, die Entmündigung durch den Staat zu beenden und neue Freiräume für gesellschaftliche Selbstorganisation zu schaffen. Die Erfolgsgeschichten der Bürgerbewegungen in den osteuropäischen Ländern und nicht zuletzt auch in der DDR Ende der 80er Jahre sind zugleich eindrucksvolle Belege dafür, was bürgergesellschaftliches Engagement politisch bewirken kann.

Bald inspirierte die Wiederentdeckung des Begriffs auch die gesellschaftspolitischen Diskurse in den westlichen Ländern. Dabei verbanden sich mit ihm zwei unterschiedliche Bedeutungsgehalte. Zum einen steht er für die Vision einer aktiven Gesellschaft. Zum anderen wird der Begriff gerade in Deutschland auch als Sammelbezeichnung für das bürgerschaftliche Engagement verwendet. In diesem Sprachgebrauch hat er Affinitäten zu Begriffen wie Aktiv-Bürgerschaft oder Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs).

Beide Begriffsdeutungen – die »visionäre« und die »empirische« – sind vereinbar, indem man einerseits feststellt, dass es Bürgergesellschaft bereits gibt, sich aber andererseits als Vision wünscht, dass ihre Rolle und Bedeutung zukünftig noch wesentlich gestärkt wird. Gemeinsam ist beiden Vorstellungen, und damit schließt sich auch der Kreis zu den Ursprüngen bei Ferguson, dass Bürgergesellschaft auf bestimmten Grundhaltungen beruht. Diese lassen sich mit den Begriffen »Bürgersinn«, »Zivilcourage« und »Solidarität« benennen.

Kennzeichnend für die Bürgergesellschaft heute sind ihre Buntheit und Vielfalt. Dies gilt gleichermaßen für die Inhalte – vom Heimatverein bis zu den Globalisierungskritikern attac – wie für die Formen, von der klassischen Verbandsstruktur bis zum losen Netzwerk im Internet.

Einen »Gesamtverband Bürgergesellschaft e.V.« kann es folglich nicht geben. Dies ist kein Verlust. Ihre Buntheit und Vielfalt macht gerade die Lebendigkeit und Stärke der Bürgergesellschaft aus. Bürgergesellschaft ist kein Zustand, sondern ein dynamischer Prozess. Ihre Offenheit schützt sie gegen Stagnation, Bürokratisierung und Oligarchisierung und ermöglicht eine flexible Anpassung an unterschiedliche Problemlagen und Organisationsbedarfe, wozu auch situationsspezifische Koalitionen mit wechselnden Partnern aus Markt und Staat gehören.

Bürgergesellschaft entwickelt sich global. Allein die Zahl internationaler NGOs und transnationaler Netzwerke wird auf über 50.000 geschätzt. Sie hat sich in den letzten 10 Jahren mehr als verdoppelt.

Literatur: Reinert, Adrian: Vernetzung in der Bürgergesellschaft. In: Projektarbeit. 1/2004, S. 71–76, erscheint im Juni 2004.

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