mitarbeiten (1/2009)

»Freiwillige wachsen mit ihren Aufgaben« (2/2)

Fortsetzung des Interviews mit Alice Fröhlich

Bestandteil der Arbeit von SOLIDAR ist auch der freiwillige Einsatz von jugendlichen Sozialpraktikant/innen. Wie gewinnen Sie diese für Ihre Arbeit, wie gelingt es, Jugendliche für die Themen Demenz, Alter und Pflegebedürftigkeit zu sensibilisieren und zur Mitarbeit anzuregen?
Wichtig ist in die Schulen zu gehen und den Jugendlichen die »andere Welt der Demenz« zu erklären, ihnen zu erzählen, dass Demenz häufig für die betroffenen Menschen ein besonders großes und tiefes Gefühl von Einsamkeit bedeutet. Immer mehr Menschen werden betroffen und es werden immer weniger Menschen da sein, um ihre Einsamkeit zu erleichtern. Wichtig ist es, diese Jugendlichen zu motivieren, emphatisches Denken und Handeln zu vermitteln und Werte zu setzen.

Wie werden die Sozialpraktikant/innen für Ihre Tätigkeit qualifiziert? Gibt es Vorbehalte der meist älteren Menschen gegenüber den Jugendlichen?
Ein halbes Jahr bevor die Jugendlichen als Sozialpraktikant/innen anfangen, werden sie auf ihre Aufgaben vorbereitet. Sie werden über das Thema Demenz »aufgeklärt«, sie machen anhand vieler praktischer Übungen wertvolle Selbsterfahrungen: Sie lernen, in dem sie sich gegenseitig das Essen reichen, im Sitzen, im Liegen, sie lernen, in dem sie selbst in einem Rollstuhl sitzen und gefahren werden. Wichtig ist es, ihnen Gesprächsführung und wertschätzende Kommunikation mit älteren Menschen (keine Opas und Omas, keine Pampers, kein Füttern usw.) zu vermitteln und ihnen die Regeln in einer Pflegeeinrichtung zu erklären. Aber auch medizinische und pflegerische Sachverhalte werden angesprochen. Die Jugendlichen werden ernst genommen, mitgenommen, begleitet und unterstützt. Sie müssen gar nichts »müssen«. Sie können in regelmäßig stattfindenden Gruppen- oder Einzelgesprächen Ängste oder Kritik äußern. Sie können von uns lernen, aber wir können auch von diesen Kindern lernen! Vorbehalte gegenüber den Jugendlichen gibt es in der Regel nicht. Im Gegenteil: unsere Bewohner/innen reagieren sehr positiv auf unsere Schüler/innen.

Welche Rolle spielen die Angehörigen der pflegebedürftigen Menschen in Ihrem (Pflege-) Konzept?
Eine freiwillige Organisation in einer Pflegeeinrichtung zu haben, ist für Angehörige sehr wichtig. Dem Anschein nach erfüllen sie ein Bedürfnis, weil das Verlangen nach Zuwendung und freundschaftlichen Kontakten groß ist und die Selbstverständlichkeit davon aber klein. Die Aufgabe ist wichtig und der Erfolg des Ganzen ist erstrebenswert. Die wichtigsten Bezugspersonen für unsere Bewohner/innen sind ihre Angehörigen. Eine gute Zusammenarbeit mit ihnen ist daher sehr wichtig.

SOLIDAR arbeitet bundesweit und international vernetzt und versteht sich als »lernende Organisation«. Inwiefern ist das Konzept von SOLIDAR übertragbar? Was kann SOLIDAR von anderen innovativen Einrichtungen lernen?
Das Konzept von SOLIDAR ist nur übertragbar, wenn die Leitung oder Geschäftsführung einer Institution 100 Prozent dahinter steht.
Das gilt auch für andere Bereiche, wie z. B. Sportvereine, Kulturvereine oder Kirchen. Generell gilt: Wir sind immer offen für neue Ideen und Ergänzungen durch Erfahrungen anderer.

Ein Anliegen Ihrer (Lobby-) Arbeit ist, das Thema Demenz und den gesellschaftlichen Umgang mit demenzkranken und pflegebedürftigen Menschen in den Blickpunkt der Öffentlichkeit zu rücken. Wie erleben Sie den gesellschaftlichen Umgang mit dieser Krankheit?
Bedrückend, abwehrend, verdrängend, ängstlich. Ich meine, nur durch Aufklärung direkt vor Ort haben wir eine Chance, dieses Thema zu enttabuisieren.

Der Themenkomplex Leben im Alter, Pflege, Heim ist nicht nur ein hoch emotionales und uns alle betreffendes Thema, sondern regelmäßig auch Bestandteil politischer und gesellschaftlicher Debatten. Wenn Sie für einen Tag in die Rolle eines/r Politiker/in schlüpfen könnten: Was würden Sie tun? Welche Erwartungen und Wünsche an die Politik haben Sie, was würden Sie verändern?
Ich würde den ganzen Tag in einer auf das Thema Demenz spezialisierten Pflegeeinrichtung verbringen, um selber praxisnah den Alltag zu erleben. Ich würde Gespräche mit der Leitung, dem Personal, den Angehörigen und freiwilligen Mitarbeiter/innen führen, um nachvollziehen zu können, was für eine enorme Herausforderung an alle Beteiligten gestellt wird! Was wir unbedingt brauchen ist weniger Bürokratie, angemessene Kostenbeiträge, keine Zweckentfremdung von eingezahlten Beiträgen in der Pflegeversicherung und bessere Rahmenbedingungen für ein menschenwürdiges Leben von an demenzerkrankten Menschen, die sich selber nicht mehr wehren können und keine Lobby haben, aber bestimmt gerne eine hätten. In den Kommunen muss das Verständnis dafür geschult werden, dass das bürgerschaftliche Engagement eine Querschnittsaufgabe darstellt, für dessen Aktivierung auch ein entsprechendes Leitbild sowie kompetente Ansprechpartner/innen zur Verfügung stehen müssen. Entbürokratisierung, Bürgernähe, Anerkennungskultur und eine angemessene Infrastruktur zur Motivierung für das Engagement sind Stichwörter, die einer weiteren Ausdifferenzierung bedürfen. Um dieses konkret umzusetzen, muss noch mehr in den Blickpunkt gerückt werden, dass die Bedeutung von präventiven Angeboten steigt und sich die subjektive Einstellung zum Älterwerden verändert. Die Losung lautet: Kooperation statt Konkurrenz. Wir müssen den Dialog und das Verhältnis zueinander stärken. In den kommenden Jahren wird es auf die Kooperation und nicht auf die Konfrontation ankommen.
Ein wichtiger Punkt, den ich politisch bzw. gesetzgeberisch verändern würde, wäre, dass die Höhe der Gewinnentnahmen gesetzlich geregelt und überprüft werden, sowohl von privat als auch von gemeinnützig geführten Pflegeeinrichtungen.

Können Sie bereits sagen, ob die Auszeichnung durch den Freiherr-vom-Stein-Preis die öffentliche Wahrnehmung Ihrer Arbeit verändert? Wie waren die Reaktionen im lokalen Umfeld?
Die Reaktionen waren überwältigend! Interviews, Fernsehen, Zeitungen usw. Die Auszeichnung durch den Freiherr-vom-Stein Preis hat erheblich dazu beigetragen, über dieses schwierige Thema aufklären zu können und vielen, vielen Menschen etwas von ihren Ängsten nehmen zu können.

Der Preis ist mit 25.000 Euro dotiert. Sie haben angekündigt, das Preisgeld in die weitere Arbeit von SOLIDAR zu investieren. Was haben Sie geplant?

In Zusammenarbeit mit der Haus- und Pflegedienstleitung werden wir dieses Geld einsetzen für Musik und bewegungstherapeutische Angebote für schwerstdemenziell erkrankte Menschen.

Zum Schluss: Wo sehen Sie Ihren Verein in 10 Jahren?
In den nächsten 10 Jahren wünsche ich mir, dass wir weiterhin auf diesem Weg in Solidarität gehen werden, offen miteinander umgehen und auf unsere Verletzbarkeiten achten. Ich bin sehr optimistisch, dass uns das gelingen wird. Letztendlich bin ich unglaublich froh, dass es all diese vielen freiwilligen Mitarbeiter/innen gibt.

SOLIDAR e.V., Büro HAUS IM PARK, Johann-Wichels-Weg 2, 27574 Bremerhaven, Tel.: (04 71) 8 00 18-0, -18, Fax: (04 71) 8 00 18-11, E-Mail: fsd( at )haus-im-park.net, Internet: www.solidar-fsd.de

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