mitarbeiten (4/2010)

Bürgerbeteiligung stärkt die Identifikation mit der Demokratie

Das »Forum für Bürgerbeteiligung und kommunale Demokratie« widmete sich in diesem Jahr der Zukunft der Bürgerbeteiligung. Zum Auftakt der Veranstaltung diskutierten die Politikwissenschaftler Thomas Leif und Roland Roth die Frage: »Bürgerbeteiligung: Mythos oder Motor der gesellschaftlichen Entwicklung?«. Im Gespräch äußert sich Prof. Dr. Thomas Leif zur Krise der Demokratie und über die Chancen von mehr Bürgerbeteiligung.


Welche Erwartungen verknüpfen Sie mit einer stärkeren Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an den politischen Entscheidungsprozessen?

Leif: Zunächst mal eine Vitalisierung der Demokratie und bessere Entscheidungen, die auch substanziell die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung vertreten. Ein Prozeß in dem nicht Wenige, die möglicherweise nicht legitimiert sind, politische Entscheidungen treffen, sondern diejenigen mehr an Entscheidungsprozessen, an Willensbildungsprozessen beteiligt werden, die nachher mit den Entscheidungen leben müssen.

Wo sehen Sie die Chancen für neue Beteiligungsmöglichkeiten?

Leif: Ich sehe sehr große Chancen in allen Politikfeldern. Wir erleben in letzter Zeit ja einen Wandel der Demokratie hin zur Lobbykratie: immer mehr relevante Entscheidungen werden aus dem Parlament ausgelagert und in Kommissionen, aber auch in Geheimtreffen oder »Rotweinrunden« beschlossen. Im Grunde ist »mehr Beteiligung«, mehr Demokratie die Gegenthese zu dieser Entwicklung. Beteiligungsformen aller Spielarten können ein Kontrastmittel sein, um eine stärkere Identifikation mit Demokratie zu ermöglichen.

Was sind die Gründe für die Vertrauenskrise der Demokratie?

Leif: Der Lobbyismus in seiner heutigen Form ist im Grunde eine Vertrauensvernichtungsmaschine für demokratische Prozesse. Informelle Macht, die nicht legitimiert ist, aber auf starker ökonomischer Potenz beruht, entscheidet über wichtige Projekte. Das führt dazu, dass in der Bevölkerung der Glaube an diejenigen schwindet, die eigentlich für diese Politikprozesse bestellt sind, die auch die Funktion haben, die Stimmung der Bevölkerung aufzugreifen und im Parlament zu repräsentieren und zu artikulieren. Ich glaube, diese Entparlamentarisierung des Parlaments führt dazu, dass wir beachtliche Nichtwählerpotenziale haben. Die Leute gehen immer weniger wählen, weil sie gar keine Erwartungshaltung mehr haben. Das ist ein langsames Aussterben der Wurzeln der Demokratie. Das Primat der Politik ist nicht mehr gewahrt, auch die personelle Auszehrung der repräsentativen Demokratie ist beachtlich. Mein Eindruck ist allerdings, dass auch viele Politiker/innen spüren: »Wir müssen etwas tun, um wieder Legitimation für Politik zu organisieren.« Auf der anderen Seite haben wir auch eine Art Luxus-Demokratie, in der vielen völlig egal ist, was geschieht, solange ihre eigenen Interessen nicht direkt tangiert sind. Für mich ist demokratische Teilhabe, Beteiligung jedoch auch immer verbunden mit einem gewissen Aufforderungscharakter. Unser Problem ist, dass wir zu wenig Lernwerkstätten haben, dass zu wenig Menschen schon in frühester Zeit lernen, wie sie sich an ganz unterschiedlichen Projekten und Orten einbringen können, wie sie auch mit Erfolgen und Niederlagen umgehen. Dazu kommt, dass es die heutige Mediengesellschaft mit ihrem Alarmismus sehr vielen Menschen ermöglicht, sich auf eine bequeme Rolle in der Empörungsdemokratie zurückzuziehen. Man regt sich auf über irgendwas und regt sich aber wieder ab. Aber man tut nichts dafür und zieht keine Konsequenzen. Also im Grunde ist die Verlängerung des Stammtisches als Ersatz für konkretes Handeln höchst problematisch.

Wie könnte dieses konkrete Handeln aussehen?

Leif: Das Wichtigste ist es meiner Ansicht nach, Beteiligungschancen zu organisieren, demokratische Lernorte zu hegen und zu pflegen. Ich bin ein großer Anhänger des »Community Organizing«-Ansatzes, weil ich davon überzeugt bin, dass es heute Impulsgeber braucht, Begleiter und auch »Chancenmanager«. Es gibt tatsächlich viele Menschen, die im Rahmen ihrer Möglichkeiten etwas tun würden, aber überhaupt gar keine Erfahrung haben, wo und wie sie zupacken können. Man muss die Leute interessieren, ihnen klar machen, dass man politische Verantwortung nicht nur delegieren kann. Ich sehe in diesem »Community Organizing«-Ansatz die Chance, den Kern der Selbstbehauptung zu organisieren. Mit Sozialarbeiter/innen, mit intelligenten, strategiefähigen Leuten, die das Herz auf der richtigen Seite haben, die auch Ausdauer haben. Darin sehe ich die Möglichkeit, über Bildungsprozesse die Beteiligung wieder aufzuforsten, wieder aufzufrischen, zu animieren.

Welche Rolle spielen Kommunalpolitik und -verwaltung für eine Stärkung der Beteiligung in Deutschland?

Leif: Die Verwaltung pflegt eine vollkommen selbstbezogene Politik. Sie interessiert sich null für Beteiligung oder dafür, was Bürger/innen wirklich wollen. Sie macht ihren Job und für sie sind die Bürger/innen im Grunde lästig. Das führt natürlich dazu, dass der Rückzug bequem ist. Wir müssen wieder dazu kommen, dass es eine stärkere Konfliktherausforderung der Verwaltung gibt und die Verwaltung nicht für sich selbst da ist, sondern für die Bürger/innen. Und da gibt es zu wenig kritische Kerne in der Gesellschaft, die auch diese Beteiligungsforderung stellen. Das liegt daran, dass Beteiligung ein großer Mythos ist. Wir haben keine beteiligungsorientierte Gesellschaft, sondern wir haben im Gegenteil vielfach eine sehr privatistische, zurückgezogene und passive Gesellschaft.

Wenn wir den Blick nach vorn richten: Wo liegt die Zukunft der Bürgerbeteiligung?

Leif: Es gibt keinen Grund, die Flinte ins Korn zu werfen, man darf nicht verzagen. Beteiligung hat es häufig schwer, weil sie quer zu dem geltenden Machtkomplex läuft. Bei einem Mehr an Beteiligung müssen Menschen Macht abgeben, das ist die Summe von allem. Ich glaube, noch ist es schwer, aber in zehn Jahren werden nur die Politiker/innen führende Positionen einnehmen können, die quasi ein Management der Vielfalt demokratischer Strömung organisieren können. Das heißt, sie werden nicht mehr dafür belohnt, wenn sie Patriarchen ihrer Parteien sind und die Macht unter sich verteilen. Sondern sie werden Anerkennung kriegen und auch Machtressourcen, wenn sie das, was in der Bevölkerung, in der Bürgerschaft ist, bündeln, integrieren, zusammenführen und zu guten Lösungen bringen.

Zur Person: Prof. Dr. Thomas Leif ist Politikwissenschaftler und Chefreporter beim SWR-Fernsehen in Mainz. Als Journalist und Autor arbeitet er zu den Themen Partizipation, Demokratieentwicklung und Lobbyismus. Er ist Vorsitzender des Netzwerks Recherche (www.netzwerkrecherche.de) und Mitherausgeber des Forschungsjournals Neue Soziale Bewegungen, seit 2009 Honorarprofessor an der Universität Koblenz-Landau. Lesetipp: angepasst & ausgebrannt. Politik in der Nachwuchsfalle. München 2009

Video-Ausschnitte des Gesprächs mit Thomas Leif finden Sie unter www.mitarbeit.de/videos.html