mitarbeiten (2/2012)

Europa gelingt nur mit den Bürgerinnen und Bürgern – Gespräch mit Gerald Häfner, Mitglied des Europäischen Parlaments

Im April 2012 startet die Europäische Bürgerinitiative (EBI). Sie ist eine der wichtigsten Neuerungen der europäischen Politik, die durch das Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon im Dezember 2009 möglich wurde. Gerald Häfner, Mitglied des Europäischen Parlaments, erläutert im Gespräch mit der Redaktion, welche Chancen sich mit der EBI für ein demokratischeres Europa verbinden. Er ist überzeugt: die Europäische Bürgerinitiative wird die Kultur der europäischen Debatte verändern und die Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft befördern.

Welche Möglichkeiten verbinden sich mit der Europäischen Bürgerinitiative für die Bürgerinnen und Bürger Europas?

Die Europäische Bürgerinitiative ist das erste transnationale Bürgerbeteiligungsinstrument weltweit. Sie gibt den Bürgerinnen und Bürgern der Europäischen Union die Möglichkeit, sich in Europa zu Wort zu melden, sich in die Gestaltung der europäischen Politik einzumischen und die politische Agenda der EU aktiv mitzugestalten. Dabei ist die EBI kein Instrument der direkten Demokratie. Sie ist ein unverbindliches Beteiligungsinstrument. Die Bürger/innen können also nicht wie in einer Volksabstimmung selbst entscheiden; vielmehr können sie Vorschläge machen, Anregungen geben und Themen auf die Tagesordnung der EU setzen. Die Entscheidung, ob sie die Vorschläge der Bürger/innen umsetzt, liegt am Ende bei der Europäischen Kommission. Wenn mindestens eine Million Unterschriften aus mindestens 7 Mitgliedsstaaten zusammenkommen, muss sich die Europäische Kommission mit dem Anliegen der Initiative befassen und kann dazu einen Gesetzgebungsvorschlag erarbeiten. Mit der EBI haben die Bürgerinnen und Bürger einen Fuß in der Tür. Was sie daraus machen und wie weit die Kommission und die anderen Organe der EU die Tür öffnen, lässt sich heute noch nicht endgültig sagen.

Im Dezember 2011 hat der Deutsche Bundestag das Gesetz zur Durchführung der EBI beschlossen. Wie bewerten Sie die verfahrensrechtliche Ausgestaltung der EBI? Welche Stärken und Schwächen hat das Verfahren?

Die entscheidende Verordnung, die der Deutsche Bundestag jetzt in nationales Recht überführt hat, wurde 2010 von Kommission, Rat und Europäischem Parlament gemeinsam erarbeitet. Ich selbst war damals als verantwortlicher Berichterstatter des Europäischen Parlamentes ganz entscheidend daran beteiligt. Ich habe mich mit der breiten Unterstützung des Europäischen Parlamentes um eine möglichst unbürokratische, bürgerfreundliche und wirksame Regelung bemüht. So wollten wir zum Beispiel das Unterschriftenverfahren vereinfachen, die Zahl zulässiger Themen ausweiten und auch Jugendlichen ab 16 Jahren die Teilnahme ermöglichen. Die jetzige Verordnung ist das Ergebnis harter Verhandlungen mit dem Europäischen Rat und der Kommission. Sie ist ein Kompromiss zwischen denen, die sich als Anwälte der Bürger/innen fühlen, und denen, die eine stärkere Bürgerbeteiligung auch mit großer Sorge sehen. Eine Schwäche der Ausgestaltung ist die Limitierung zulässiger Themen auf Gegenstände, die nach den geltenden Verträgen im Kompetenzbereich der EU liegen. Ich meine, dass auch Änderungen oder Ergänzungen der bestehenden Verträge zulässig sein müssen. Eine weitere Schwäche ist die große Unverbindlichkeit des Verfahrens. Zu den großen Stärken gehören zwei Elemente, für die das Parlament ganz besonders gekämpft hat: dass Unterschriften ebenso auf Papier wie online im Internet gesammelt werden können und dass die Initiatoren am Ende des Verfahrens im Europäischen Parlament zu einer Anhörung in Anwesenheit der Kommission und der Medien eingeladen werden, wo sie ihr Anliegen noch mal ausführlich darstellen und argumentativ begründen können.

Wie ist die Akzeptanz der EBI in anderen Ländern Europas?

Das ist von Land zu Land verschieden. Fast in allen Ländern Europas gibt es eine sehr aktive Zivilgesellschaft, gibt es Initiativen, Vereine und Verbände, die sich schon jetzt mit der EBI beschäftigen und überlegen, inwieweit sie dieses Instrument für ihre Anliegen nutzen können. Doch die breite Öffentlichkeit ist in vielen Ländern noch zu wenig aufgeklärt. Die EBI ist für viele Bürger/innen – wie Europa insgesamt – noch sehr weit weg. Auch in Deutschland bleibt hier noch viel zu tun.

Der EU wird häufig ein Demokratiedefizit unterstellt. Wird dieses durch die EBI überwunden?

Nein. Die EBI kann das Demokratiedefizit lindern, aber sie alleine wird es nicht überwinden. Denn dieses Demokratiedefizit hat tiefe historische, rechtliche und strukturelle Wurzeln. Die EU begann vor 60 Jahren als ein Elitenprojekt. Und sie hat es bis heute nicht ganz geschafft, sich zu einem Projekt aller Europäerinnen und Europäer zu wandeln. Rechtlich und strukturell basiert die EU auf Verträgen zwischen Staaten. Diese Verträge wurden zwischen Regierungen verhandelt und beschlossen und sie geben den nationalen Regierungen – und den Beamten des »Regierungsapparates« in Brüssel – das meiste Gewicht. Noch immer spielen die Staats- und Regierungschefs Legislative und Exekutive zugleich, übrigens ein schwerer Verstoß gegen das schon vor 250 Jahren von Montesquieu entdeckte Prinzip der Gewaltenteilung. Und noch immer hat das von den Bürger/innen direkt gewählte Europäische Parlament nur ein Mit- und nicht das letzte Entscheidungsrecht. Um Europa umfassend zu demokratisieren, muss also noch mehr geschehen, als die EBI einzuführen. Sie alleine erlaubt den Bürger/innen Vorschläge, aber keine Entscheidungen. Erst die massive Stärkung des europäischen Parlamentes und das Recht auf europäische Volksabstimmungen wird die Bürgerinnen und Bürger auf gleiche Augenhöhe mit den Apparaten und Politiker/innen bringen. Das aber war und ist gegenwärtig noch nicht mehrheitsfähig. Hier liegt noch eine Menge Arbeit vor uns.

Welchen Stellenwert hat das Thema Bürgerbeteiligung innerhalb der EU und im Europäischen Parlament?

Der Stellenwert der Bürgerbeteiligung ist enorm gewachsen. Fast jede/r redet heute davon. Dass die Bürger/innen stärker beteiligt werden müssen, könnte man sogar als eine Art Gemeingut betrachten. So hat die EU das Jahr 2013 zum »Europäischen Jahr der Bürgerinnen und Bürger« ausgerufen, mit dem »active citizenship« deutlich gefördert werden soll. Wenn man aber das Kleingedruckte liest, stellt man fest, dass das alles fast nur Lippenbekenntnisse sind. Fast nirgendwo werden wirklich Schritte zu mehr Bürgerbeteiligung gewagt. Noch immer sieht man die Bürger eher als eine Art Resonanzbogen, der gerne mitschwingen soll, wenn die Stimme der Institutionen ertönt.

Angesichts der aktuellen Auseinandersetzungen über die Krise der EU und einiger Mitgliedsstaaten: ist es sinnvoll, die Bürgerinnen und Bürger Europas stärker an den politischen Entscheidungsprozessen der EU zu beteiligen?

Eindeutig ja. Ich gehöre nicht zur großen Gruppe derjenigen, die sagen: ›Europa und die Maßnahmen zur Überwindung der Krise sind zu wichtig, als dass man die Bürger/innen daran beteiligen dürfte‹. Diese leider ziemlich verbreitete Position pflastert den Weg in den demokratischen Abgrund. Europa kann aber nur mit den Bürger/innen gelingen. Das gilt auch in der Sache. Die vereinbarten Entscheidungen und Verfahren zur Überwindung der Krise kosten nicht nur immens viel Geld, sondern sie werden auch zu einer dramatischen Stärkung der Kompetenzen auf europäischer Ebene führen. Wie soll das gehen, ohne die Bürger/innen stärker an den politischen Entscheidungen der EU zu beteiligen? Schon jetzt haben die Bürgerinnen und Bürger das Gefühl, in immer mehr wesentlichen Bereichen nur noch Objekt und nicht mehr Subjekt der Entscheidungen zu sein. Je mehr dieses Gefühl wächst, desto weniger wird die Bevölkerung bereit sein, auch die Konsequenzen solcher Entscheidungen zu tragen und aktiv zur Lösung der Krise beizutragen. Wer glaubt, er könne Europa ohne die starke Beteiligung der Bürger/innen bauen, wird am Ende beide verlieren: Die Bürgerinnen und Bürger und Europa.

Begünstigt die EBI die Schaffung einer europäischen Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft?

Ja. In der Schaffung bzw. Stärkung einer europäischen Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft sehe ich sogar den stärksten Mehrwert der EBI. Denn diese wird mehr fördern als nur einzelne Initiativen, sie wird etwas fördern, worauf das gemeinsame Europa angewiesen ist wie der Fisch auf das Wasser – und was wir bisher kaum je erleben: Grenzüberschreitende Diskussionen und Debatten einer europäischen Öffentlichkeit. In dem Moment, in dem sich europaweit Bürgerinnen und Bürger aus einer Vielzahl von Mitgliedstaaten zusammentun, um für eine Finanztransaktionssteuer, für die Abschaffung der Roaming-Gebühren im grenzüberschreitenden Telefon- und Internetverkehr, für die Festschreibung eines arbeitsfreien Sonntages oder gegen die Förderung verbrauchender Embryonenforschung einzutreten – um nur einige der aktuell diskutierten Themen zu nennen – in dem Moment, da sie die Sammlung der Unterschriften für ihre Forderung grenzüberschreitend organisieren und koordinieren entsteht so etwas wie eine über die Grenzen hinweg tätige Zivilgesellschaft, die bestimmte Themen nicht mehr nur national, sondern nun endlich auch wirksam auf der europäischen Ebene anspricht. So kann jede einzelne EBI zur Stärkung europäischer Diskurse und zur Entstehung eines Europas von unten, eines Europas der Bürgerinnen und Bürger beitragen.

Welche Impulse können von Deutschland für eine weitere Demokratisierung der EU ausgehen?

In Deutschland gibt es mehr Bürgerinitiativen als in vielen anderen europäischen Ländern. Nicht zuletzt Mehr Demokratie e.V. und die Stiftung MITARBEIT haben dazu beigetragen, dass wir mittlerweile auch eine Vielzahl an Bürgerbeteiligungsinstitutionen und -verfahren haben – vor allem natürlich auf der kommunalen Ebene. Darüber hinaus haben wir mittlerweile in allen Bundesländern Verfahren der direkten Demokratie durchsetzen können. Fast jede/r Deutsche hat schon einmal an einem Bürgerbegehren und Bürgerentscheid bzw. oft auch an einem Volksbegehren und Volksentscheid teilgenommen und dabei erlebt, dass direkte Demokratie die Information der Bürger/innen, die Diskussion über Sachfragen, die Beteiligung der Bürger/innen an den Entscheidungen und auch die Legitimation und Akzeptanz von Entscheidungen und damit das Gemeinwesen wesentlich stärkt. Diese Impulse und Erfahrungen können wir in Europa einbringen. Ich würde mich freuen, wenn die Bürgerinnen und Bürger, Initiativen, Organisationen und Verbände, die in Deutschland aktiv für mehr Bürgerbeteiligung kämpfen, künftig auch auf der europäischen Ebene zu Vorkämpfern für mehr Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie werden.

In zehn Jahren: hat sich die EBI als Erfolgsmodell etabliert oder sich als demokratiepolitisches Feigenblatt der EU entpuppt?

Das bleibt offen, keiner kann in die Zukunft schauen. Die EBI ist ein Instrument, für das es keinen historischen Vorläufer gibt. Deshalb – und weil der Verordnungstext der Kommission einen immensen Interpretations- und Handhabungsspielraum lässt – wären sichere Prognosen heute nicht seriös. Deshalb lautet meine Antwort: Wir haben es in der Hand! Die Bürgerinnen und Bürger müssen das neue Instrument nun auch aktiv und zielstrebig nutzen. Sie müssen gute Themen identifizieren, überzeugende und praktikable Vorschläge formulieren und in der Lage sein, wirklich breite, europaweite Kampagnen zu organisieren. Aber mehr noch entscheidet die administrative Seite über Erfolg oder Scheitern der EBI. Die nationalen Behörden dürfen den Bürger/innen nicht weiter unnötig Steine in den Weg legen, sondern müssen sie bei der Wahrnehmung des neuen Rechtes aktiv unterstützen. Und die Europäische Kommission muss sich ihrer immensen Verantwortung für Demokratie und Bürgergesellschaft bewusst werden. Denn zum Dialog gehören immer zwei. Die EBI ist eine Art Bürgersprache. Doch wenn die Bürger/innen erleben, dass ihnen regelmäßig keiner zuhört, werden sie bald schon verstummen; oder anfangen zu brüllen. Beides bringt uns nicht weiter. Wenn die Kommission die ersten zehn Bürgerinitiativen ebenso freundlich wie folgenlos zum Altpapier geheftet hat, wird das Urteil feststehen: Die EBI ist nur ein zahnloser Tiger, nicht mehr als weiße Salbe. Damit hätte die EBI am Ende vielleicht sogar das Gegenteil dessen erreicht, was wir mit dem neuen Instrument bewirken wollen: Sie hätte nicht das Engagement und den Einfluss der Bürgerinnen und Bürger gestärkt, sondern deren Enttäuschung. Wenn aber die ersten EBIs zeigen, dass Bürgerinnen und Bürger erfolgreich europäische Gesetze oder die europäische Politik beeinflussen können, dann wird das ermutigen, sich aktiv und mit eigenen Vorschlägen in die europäische Politik einzuschalten. Dann wird die EBI das werden, weshalb wir sie vor zehn Jahren konzipiert haben: ein Beitrag zu einem Europa, in dem nicht nur Konzerne und Lobbyisten, Regierungen und Parlamente etwas zu sagen haben, sondern endlich auch die Bürgerinnen und Bürger selbst. Dabei sehe ich die EBI nur als ersten Schritt, dem weitere folgen müssen. Die Demokratie in Europa hat erst begonnen, sie ist noch lange nicht am Ziel. Aber jeder lange Weg beginnt mit einem ersten Schritt.

Zur Person: Gerald Häfner, Jahrgang 1956, gilt als einer der Erfinder der Europäischen Bürgerinitiative. Er ist Gründungsmitglied von Mehr Demokratie und war bis 2009 Sprecher des Bundesvorstands des Vereins. Er war Mitglied des Deutschen Bundestages (1987-1990, 1994-2002) und ist seit 2009 Mitglied des Europäischen Parlaments (Bündnis 90/Die Grünen). Der Autor und Publizist ist als Sachverständiger zu Demokratie- und Verfassungsfragen für verschiedene deutsche Landtage sowie für mehrere Parlamente im europäischen und internationalen Ausland tätig.
Gerald Häfner ist seit 1989 Mitglied im Stiftungsrat bzw. Kuratorium der Stiftung MITARBEIT.

Mehr zur Vorgeschichte der Europäischen Bürgerinitiative unter www.mehr-demokratie.de/eu-buergerbegehren.html. Die EBI im Netz unter ec.europa.eu/citizens-initiative/public/welcome.

Eine gekürzte Version des Gesprächs mit Gerald Häfner findet sich in der PDF-Fassung von mitarbeiten 2/2012.