mitarbeiten (3/2012)

»Bürgerbeteiligung fängt im Kopf der Entscheider an«

Wie kann die Demokratisierung der Demokratie gelingen? Prof. Dr. Roland Roth forscht seit vielen Jahren an der Schnittstelle von Demokratieentwicklung, bürgerschaftlichem Engagement und sozialen Bewegungen. Im Gespräch mit der Redaktion zeigt sich der Politikwissenschaftler überzeugt: eine Vitalisierung der Demokratie gelingt nur, wenn sie mit einer strukturellen Aufwertung der Bürgerbeteiligung verknüpft ist.

Frage: Im Bund und in vielen Kommunen in Deutschland gibt es in Politik und Verwaltung immer noch vielfach Vorbehalte gegen eine Ausweitung der Bürgerbeteiligung. Trotz vieler Fortschritte: Was sind die Haupthindernisse auf dem Weg, Bürgerbeteiligung zu stärken und auszuweiten?

Roland Roth: Im Grunde liegt das Hauptproblem darin, dass Bürgerbeteiligung strukturfremd ist. Trotz aller Protestbewegungen und Beteiligungsschübe seit den 1960er Jahren herrscht vielerorts immer noch mehrheitlich das Verständnis vor, dass Wahlen in einer repräsentativ ausgestalteten Demokratie das ausreichende Mittel der Bürgerbeteiligung sind. Deshalb bleibt Bürgerbeteiligung randständig.

Viele Bürgerinnen und Bürger wollen sich aber einmischen und ihr Umfeld mitgestalten. Welchen Einfluss hat dieses bürgerschaftliche Engagement auf die politische Kultur?

Parteien haben in der Vergangenheit als Vermittlungsinstitutionen eine zentrale Rolle im politischen Prozess gespielt, und sie werden dies auch weiterhin tun. Doch das Modell der Bundesrepublik als »Parteien- und Verbändestaat«, in dem die Bürgerschaft in Gestalt von Spitzenorganisationen am Regierungsgeschäft
beteiligt wird, funktioniert nicht mehr. Mein Eindruck ist, dass wir den Zeitpunkt schon fast verpasst haben, angesichts der Erosionsprozesse des klassischen,
politischen Vermittlungssystems zeitgemäße Alternativen zu entwickeln. Alternativen, die offen sind für individuelle Beteiligungsformen, die in Rechnung stellen, dass wesentliche Sachthemen immer wieder neu mit den Bürger/innen verhandelt werden müssen und nicht vorab von Experten oder Gremien festgelegt werden können. Eingriffe in die Alltagswelt der Bürgerinnen und Bürger lassen sich nicht mehr einfach verordnen oder durch Gesetz befehlen. Wir müssen Abschied nehmen von der Basta-Politik, die immer noch die politische Kultur beherrscht. Es ist eine produktive Reform der Mitwirkung angesagt.

Wie könnte diese Reform aussehen? Worauf kommt es an?

Zunächst einmal: Bürgerbeteiligung fängt im Kopf der Entscheider an. Diese müssen zu der Einsicht gelangen, dass sich die Herausforderungen in ihren jeweiligen Fach- und Verantwortungsbereichen besser beteiligungsorientiert gestalten lassen. Sie müssen überzeugt werden, dass Bürgerbeteiligung trotz aller damit verbundenen Herausforderungen ein produktiver Prozess ist, dass durch Beteiligung ein Nutzen entstehen kann, der allen Beteiligten zugute kommt. Das zentrale Argument für diesen Sinneswandel wäre: durch ein Mehr an Bürgerbeteiligung werden die zu treffenden Entscheidungen besser, auch besser legitimiert und von der Bevölkerung eher akzeptiert. Und nicht zuletzt machen Beteiligungsverfahren häufig Alternativen sichtbar, auf die man ohne Beteiligung nicht gekommen wäre.

Es gibt aber auch den Einwand: Wenn ich beteilige, dann erreiche ich nur die ohnehin bereits aktiven Bürger/innen. Sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen bleiben außen vor. Demokratie wird dann noch ungleicher.

Das ist in der Tat eine Gefahr. Dennoch lässt sich der vorgebrachte Einwand leicht entkräften. Wir verfügen mittlerweile über ein großes und erprobtes Spektrum von Beteiligungsverfahren, mit denen sich repräsentative Ergebnisse erzielen lassen, sogar repräsentativere als durch Wahlen. Es muss der Anspruch sein, Beteiligungsprozesse so zu gestalten, dass eine möglichst breite und repräsentative Beteiligung gewahrt bleibt.

Wie wichtig ist auf kommunaler Ebene eine beteiligungsfreundliche Infrastruktur?

Ganz wichtig. Je besser die Infrastruktur, desto regelmäßiger und selbstverständlicher können Bürger/innen beteiligt werden. Dazu bräuchte es erstens eine veränderte Verwaltungskultur auf Augenhöhe mit den Bürger/innen. Zweitens wäre es wichtig, in Schulen vorzubereiten auf die aktivere Rolle der Bürgerschaft. Worum es dabei geht, lässt sich oft schmerzlich erfahren, wenn man versucht, Kinder- und Jugendbeteiligung voranzubringen. Dass nämlich die Schule völlig ausfällt, wenn es darum geht zu erklären, wie Kommunalpolitik praktisch funktioniert. Drittens müssen inner- und außerhalb der Verwaltung Netzwerkstrukturen geschaffen werden mit kompetenten Unterstützer/innen für Beteiligungsprozesse. Denn auch die Bürgerschaft muss Beteiligung lernen. Bürger/innen dürfen sich z.B. durch Beteiligung nicht überfordert fühlen. Klar ist aber auch: Repräsentation wird weiterhin notwendig sein. Niemand möchte dauernd in allen Fragen beteiligt sein und alles mitbestimmen können. Aber Einmischung sollte stets möglich sein. Dabei können rechtliche Garantieren helfen, beispielsweise in Form von beteiligungsfreundlichen Kommunalverfassungen. Das wäre eine neue Entwicklungsstufe der Demokratie.

Das vollständige Gespräch mit Roland Roth finden Sie als Videomitschnitt unter www.mitarbeit.de/rueckblick.