mitarbeiten (2/2017)

»Die Einwanderungsgesellschaft im Stadtteil leben«

Gemeinwesenarbeit ist als Handlungsfeld Sozialer Arbeit eng mit einer demokratischen Stadt- und Quartiersentwicklung verknüpft. Im Rahmen aktivierender Gemeinwesenarbeit spielen Empowerment, Bürgerbeteiligung, Engagement und Selbstorganisation eine große Rolle. Bahar Sanli ist für das Berliner Nachbarschaftshaus Urbanstraße als Gemeinwesenarbeiterin aktiv. Im Gespräch erläutert sie, wieso Gemeinwesenarbeit wichtig ist, um die Einwanderungsgesellschaft vor Ort zu stärken.

Frau Sanli, Sie arbeiten als Gemeinwesenarbeiterin in Berlin-Kreuzberg. Was ist das für ein Stadtteil und vor welchen Herausforderungen steht Gemeinwesenarbeit in einem solchen Quartier?

Kreuzberg ist wie Neukölln und Wedding ein Stadtteil mit einer hohen Armutsquote und zugleich ein Stadtteil, der durch zunehmende Aufwertungs- und Verdrängungsprozesse gekennzeichnet ist. Diese gehen in der Regel zulasten der alteingesessenen Bewohnerinnen und Bewohner des Quartiers. Vor diesem Hintergrund gemeinwesenorientiert zu arbeiten heißt, dass wir uns nicht auf bestimmte Gruppen im Stadtteil wie beispielsweise Erwerbslose, Migranten, Alleinerziehende oder arme Familien fokussieren, sondern auf die Themen, die die Menschen hier bewegen: steigende Mieten, prekäre Arbeitsbedingungen, fehlende Bildungschancen.

Wir versuchen über diese Themen die verschiedenen Gruppen im Kiez zusammen zu bringen. Und ein gemeinsamer Nenner dieser Gruppen ist im Grunde ihre soziale Benachteiligung in verschiedenen Formen. Uns ist es wichtig, eine Solidarisierung innerhalb dieser Gruppen zu erreichen, damit sie sich gemeinsam für eine sozialgerechte und inklusive Stadtpolitik einsetzen.

Unsere Aufgabe ist es auch, für die Anliegen der Bewohnerinnen und Bewohner Räume und Öffentlichkeit zu schaffen, Räume, in denen betroffene Bewohnergruppen mit anderen Akteuren und Fachleuten zusammen kommen, mit Vereinen, mit Politikern. Wir unterstützen und vernetzen Initiativen aus dem Stadtteil und helfen auch, den Protest zu organisieren und auf die Straße zu bringen.

Können Sie Ihre Arbeit an einem konkreten Beispiel erläutern?
 
In unserer Nachbarschaft gibt es eine Notunterkunft für Geflüchtete. Im Zuge dessen sind Nachbarn auf uns zugekommen und haben gefragt, ob wir als Nachbarschaftshaus nicht ein Forum oder Netzwerk schaffen können, damit die Nachbarschaft die Menschen ganz gezielt vor Ort unterstützen kann. Daraus hat sich ein Runder Tisch entwickelt, der zum einen den Bewohnerinnen und Bewohnern der Notunterkunft gezeigt hat, da sind in der Nachbarschaft Vereine, Einzelpersonen, Initiativen und Verbände, die uns unterstützen.

Der Runde Tisch hat zum anderen dafür gesorgt, die vielen Missstände in der Notunterkunft aufzuzeigen, denn auch das Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales war mit dabei, ebenso der Betreiber der Unterkunft. Diese Missstände konnten durch die Arbeit und den Druck des Runden Tisches bearbeitet werden. Der Runde Tisch hat aber auch am Beispiel der Flüchtlinge gezeigt, wie wichtig das Thema bezahlbarer Wohnraum im Stadtteil ist. Denn auch die Geflüchteten wollen ja im Quartier wohnen bleiben, es sind in der Zwischenzeit Freundschaften, Bekanntschaften und informelle Strukturen entstanden. Und durch die Gespräche am Runden Tisch wurde deutlich, dass es zum Beispiel bei der Wohnungsfrage im Grunde nicht um die Gruppe der Geflüchteten geht, sondern um strukturelle Probleme, mit denen viele Menschen in der Stadt konfrontiert sind.

In unserem Fall hieß das, den Runden Tisch perspektivisch zu einem Bündnis auszubauen, in dem es um die Themen Wohnen und Arbeit geht, aber auch um Bildung und gesellschaftliche Ressentiments. Themen, die alle Menschen betreffen, die zu den sogenannten marginalisierten Gruppen in unserer Gesellschaft gehören, und die gemeinsam angegangen werden müssen. Denn das, was gut für Geflüchtete ist, ist zum Beispiel auch gut für Menschen, die von Obdachlosigkeit betroffen sind. Wir müssen uns auf die übergreifenden Themen fokussieren, wenn wir von Inklusion reden. 

Wenn Sie nach vorne schauen: was ist die Vision für die Arbeit eines solchen Bündnisses?

Inklusion findet in den Stadtteilen statt. Wir müssen mit solchen Bündnissen auf Stadtteilebene den Geist der Einwanderungsgesellschaft leben. Dabei ist es wichtig, dass uns die Politik den Raum dafür gibt. GWA weiß, dass die Bewohnerinnen und Bewohner Experten in ihren Lebenswelten sind. Dieses damit verbundene Wissen muss man ernst nehmen und in die Politik integrieren. Dabei braucht es keine Politik für Migranten, sondern eine Politik für die gemeinsame Einwanderungsgesellschaft. Es braucht eine Gesellschaft, die mitwirkt und die mitgestalten kann.

Allerdings erfordern solche Bündnisse neben viel bürgerschaftlichem Engagement auch professionelle Strukturen. Dazu gehören zum Beispiel regelfinanzierte Nachbarschaftshäuser und Stadtteilzentren als Anlaufstellen, aber auch Personen, die als »Kümmerer« eine wichtige Rolle im Quartier übernehmen. Diese Forderung hören wir übrigens auch aus der selbstorganisierten Flüchtlingshilfe. Wichtig ist, dass die Politik aus den Versäumnissen der letzten Jahrzehnte lernt.

Hier finden Sie bald das komplette Gespräch mit Frau Sanli als Video