»Nachbarschaftsarbeit ist gelebte Demokratie«

Interview mit Katharina Kühnel-Cebeci

Nachbarschaftsarbeit ist gemeinwesenorientierte soziale Arbeit. Sie trägt dazu bei, Lebensbedingungen so zu gestalten, dass Menschen entsprechend ihrer Bedürfnisse im Stadtteil besser leben können. Nachbarschaftsarbeit fördert bürgerschaftliches Engagement und schafft Beteiligungsmöglichkeiten, sie unterstützt Partizipation und selbstorganisierte Initiativen, indem sie dialogische Prozesse zwischen den Menschen und Institutionen organisiert. Eine neue Publikation der Stiftung Mitarbeit stellt nun praxiserprobte Werkzeuge der Nachbarschaftsarbeit vor. Im Gespräch mit der Redaktion erläutert die Autorin Katharina Kühnel-Cebeci, was Nachbarschaftsarbeit mit Demokratie zu tun hat.

Frau Kühnel-Cebeci, im Mittelpunkt Ihres Buchs steht die Arbeit in und mit Nachbarschaften. Was verstehen Sie unter dem Begriff Nachbarschaft?

Katharina Kühnel-Cebeci: In Deutschland nutzen die allermeisten Menschen den Begriff, um über »ihren« Raum zu sprechen, egal ob sie auf dem Land oder in der Stadt leben. Ich verstehe unter Nachbarschaft ein Ortskonzept, das Menschen, Gebäude und Flächen in einem überschaubaren Raum umfasst. Im Gegensatz dazu werden die Begriffe Quartier, Kiez oder Stadtteil häufiger von Fachleuten aus der Wissenschaft und den Raumdisziplinen verwendet.

Wer gehört zu einer Nachbarschaft dazu und wie groß sind Nachbarschaften in der Regel? 

Laut gängiger Meinung der Wissenschaft umfasst eine Nachbarschaft nur die Menschen, die dort wohnen. Für mich als Nachbarschaftsarbeiterin gehören jedoch alle Menschen dazu, die diesen überschaubaren Raum aus welchen Gründen auch immer nutzen. Die Überschaubarkeit des Raums ist grundsätzlich ein wichtiges Kriterium für Nachbarschaft, wobei meist nicht klar definiert ist, was Überschaubarkeit bedeutet. Für manche Menschen umfasst die Nachbarschaft angrenzende Wohnungen, für andere das gesamte Haus oder die Straße. Heutzutage ist das Konzept der »Stadt der kurzen Wege« beliebt, dementsprechend definieren viele Nachbarschaft als alles, was von ihrem Zuhause fußläufig innerhalb von fünf Gehminuten oder 500 Metern erreichbar ist.

Die meisten Menschen haben Nachbarn. Wann ist eine Nachbarschaft eine gute Nachbarschaft?

Wann eine Nachbarschaft gut ist, darüber gibt es wahrscheinlich so viele Ansichten wie Einwohnerinnen und Einwohner. Manche Menschen suchen an ihrem Wohnort Anonymität und Ruhe, manche wollen laute Musik mitten in der Nacht, andere ein Shopping-Center. Für Menschen, die in und mit Nachbarschaften arbeiten, bedeutet gute Nachbarschaft, sich nicht an Einzelinteressen zu orientieren, sondern am Gemeinwohl. Es geht darum herauszufinden und gemeinsam auszuhandeln, was eine gute Nachbarschaft für alle bedeutet und was jede einzelne Person bereit ist, dafür zu tun.

Welches Bedürfnis Menschen nach Nachbarschaft haben, verändert sich oft im Laufe eines Lebens. Ein Blick zurück in die Geschichte zeigt zudem, dass sich der Stellenwert von Nachbarschaft auch historisch verändert hat. Können Sie die Entwicklung kurz beschreiben?

In vorindustriellen Zeiten bedeutete die räumliche Nähe einer Nachbarschaft meist auch eine soziale Nähe. Nachbarn arbeiteten und lebten ähnlich, sie waren aufeinander angewiesen und häufig ihr Leben lang Mitglied der gleichen Dorfgemeinschaft. Der Stadtforscher und Soziologe Walter Siebel hat in dem Zusammenhang einmal sinngemäß gesagt, dass Nachbarschaft früher eine räumliche Tatsache war, die sich sozial organisiert hat und heute eine soziale Tatsache sei, die sich räumlich organisiert. Das heißt, heute können wir uns unsere Nachbarschaft aussuchen, früher eher nicht. Ein Vorteil dieser Entwicklung ist, dass menschliche Beziehungen heute meist auf Wahlfreiheit beruhen, das heißt erwünschte Beziehungen können intensiviert, unerwünschte beendet werden. Ein Nachteil der Entwicklung ist, dass räumliche Nähe heutzutage nicht automatisch eine Gemeinschaft der dort Wohnenden bedeutet. Diese zu schaffen, kann eine Aufgabe der Nachbarschaftsarbeit sein.

Ihr Buch richtet sich an Menschen, die sich für Nachbarschaft engagieren oder engagieren wollen, egal ob freiwillig oder hauptamtlich. Welche Gründe gibt es für Nachbarschaftsarbeit? 

Die Gründe, die für Nachbarschaftsarbeit sprechen, sind vermutlich so vielfältig wie die Vorstellungen einer guten Nachbarschaft. Häufig steckt der Wunsch nach einer demokratischeren und inklusiveren Stadtgesellschaft hinter der Arbeit oder der Wunsch, das eigene Wohnumfeld besser zu machen. Es gibt daneben eine Reihe wissenschaftlicher Studien, die sich mit den Wirkungen von Nachbarschaftsarbeit befassen. So wurde beispielsweise für Deutschland belegt, dass Nachbarschaftsarbeit hilft, demokratische Beteiligungsstrukturen aufzubauen und Menschen Selbstwirksamkeitserfahrungen zu ermöglichen, die wiederum Grundlage für mehr politische Beteiligung sein können.

Sie haben in Istanbul, San Francisco und Berlin in und mit Nachbarschaften gearbeitet. Gibt es Themen, die alle drei Nachbarschaften miteinander verbinden?

Alle Nachbarschaften waren geprägt durch die unterschiedlichen sozialen Lagen ihrer Bewohnerinnen und Bewohner. Besonders extrem zu spüren waren die Unterschiede in San Francisco. Das Nachbarschaftshaus, in dem ich gearbeitet habe, stand auf einer Anhöhe. Auf der einen Seite lebten Menschen aus der Technologiebranche in Eigentumswohnungen mit Kindermädchen und auf der anderen Seite Geringverdiener mit Drogenproblemen in Sozialbauten. Zudem ist die rasante Veränderung der Bewohnerschaft in manchen Vierteln ein weiteres Thema, das die drei Städte miteinander verbindet. Überall werden alteingesessene Einwohnerinnen und Einwohner aus ihren Nachbarschaften verdrängt, beispielsweise aufgrund steigender Mieten, durch den Abriss von Häusern oder durch die Umwandlung von günstigen Mietwohnungen in teure Eigentumswohnungen. Hier besteht großer Handlungsbedarf der Politik.

Welche Rolle spielt die Gemeinwesenarbeit in der Arbeit mit Nachbarschaften?

Für mich ist vor allem die Arbeit in städtischen Quartieren mit hohem Bedarf nicht ohne Gemeinwesenarbeit denkbar. In der Gemeinwesenarbeit geht es nämlich nicht nur darum, Menschen miteinander in Kontakt zu bringen. Es geht um eine Politisierung der Themen vor Ort, und zwar zielgruppenübergreifend, aufsuchend und empowernd.

Im Buch stellen Sie verschiedene Werkzeuge, Methoden und Ansätze vor, die für die praktische Arbeit mit Nachbarschaften geeignet sind. Welche Werkzeuge haben Sie warum ausgewählt?

In das Buch geschafft haben es 44 Werkzeuge zu acht unterschiedlichen Themenkomplexen. Als Nachbarschaftsarbeiterin begegne ich immer wieder Menschen, die gerne lernen wollen, wie sie mitwirken können. Die Themenkomplexe orientieren sich daran und sollen insbesondere Neulingen im Feld erste Orientierung bieten. Darüber hinaus ist es mir ein Anliegen, nicht nur Werkzeuge aus der sozialen, sondern auch aus der räumlichen Arbeit in und mit Nachbarschaften vorzustellen. Die Werkzeuge reichen deshalb von Aktivierender Befragung bis Nachbarschaftserkundung, von Crowdsourcing bis Erzählcafé, von Runder Tisch bis Urban Design Thinking. Viele Werkzeuge habe ich anhand eigener Erfahrungswerte und nach Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen ausgewählt, aufgenommen wurden grundsätzlich nur Werkzeuge, die praxiserprobt sind und die sowohl in der Stadt als auch auf dem Land anwendbar sind. Es sollte eine ausgewogene Mischung von einfachen und komplexen Werkzeugen für Ehrenamtliche und Hauptamtliche entstehen.

Was hat Nachbarschaftsarbeit mit Demokratie zu tun? Und welche Rolle spielt Bürgerbeteiligung?

Genau wie Nachbarschaft ist auch Demokratie nie fertig oder abgeschlossen, sondern ein ständiger Prozess, der immer wieder neu gelernt, gelebt und ausgehandelt werden muss. Ebenso muss auch das nachbarschaftliche Miteinander immer wieder neu gelernt, gelebt und ausgehandelt werden. Dabei gehören Aushandlungsprozesse zur Demokratie dazu, insofern ist Nachbarschaftsarbeit gelebte Demokratie. Bürgerbeteiligung vollzieht sich zudem in der Regel auf kommunaler Ebene, in der eigenen Nachbarschaft, vor der eigenen Haustür. Nachbarschaftsarbeit kann hier ein wichtiges Bindeglied zwischen Bewohnerschaft, Politik und Verwaltung sein und unterschiedliche Rollen einnehmen: vermitteln, moderieren, informieren, übersetzen, auf Verhandlungen vorbereiten, Druck aufbauen.

mitarbeiten 1/2022: »Nachbarschaftsarbeit ist gelebte Demokratie«

Katharina Kühnel-Cebeci: 44 Ideen für gute Nachbarschaft. Ein Werkzeugkoffer für alle, die Nachbarschaften aktiv mitgestalten wollen. Bonn 2022, Arbeitshilfen für Selbsthilfe- und Bürgerinitiativen Nr. 55, Verlag Stiftung Mitarbeit, 178 S., 12,00 Euro, ISBN 978-3-941143-47-0, zu beziehen über den Buchhandel oder www.mitarbeit.de/publikationen/shop/44_ideen_fuer_gute_nachbarschaft/