mitarbeiten (3/2016)

»Demokratie gemeinsam lernen und leben«

Fatmagül Tuncay ist Mediatorin und hat als interkulturelle Trainerin in der Erwachsenenbildung langjährige Erfahrung in der Projektleitung von interkulturellen Kooperationsprojekten. Im Gespräch erklärt sie, wieso interkulturelle Öffnung eine Querschnittsaufgabe der Gesellschaft ist und was Integration mit Demokratielernen zu tun hat.

Frau Tuncay, was bedeutet Interkulturelle Öffnung für Sie?

Interkulturelle Öffnung ist zunächst ein abstrakter Begriff, ähnlich wie der Begriff Integration. Interkulturelle Öffnung ist zum einen als Querschnittsaufgabe der Gesellschaft zu verstehen und adressiert sich an die Akteure der Aufnahmegesellschaft ebenso wie an die Akteure der Zugewanderten oder Geflüchteten. Zum anderen definiert der Begriff auch eine gesellschaftliche Gesamtvision: Wie definieren wir uns als Gesellschaft? Was für Leitbilder haben wir? Was ist unsere Vision von Gesellschaft und Zusammenleben? Aber interkulturelle Öffnung fängt natürlich auch ganz unten in der alltäglichen praktischen Basisarbeit an. Hier kann eine interkulturelle Haltung und das Bewusstsein einer interkulturellen Öffnung dem Gesamtprozess Integration sehr dienlich sein.

Allerdings wäre es hier aus meiner Sicht gut, aus den Fehlern der bisherigen Integrationspolitik zu lernen und zukünftig weniger über die Zielgruppe Flüchtlinge oder Migrant/innen zu reden, sondern mehr mit ihnen. Denn Integration und Demokratisierung geht nur durch Partizipation. Das bedeutet, Orte und Räume zu öffnen und Angebote zu ermöglichen, in denen man gemeinsam etwas schafft. Dazu gehört, dass man Partizipation auch durch geeignete Strukturen ermöglicht, dass es keine gesetzlichen Restriktionen gibt, die gar nicht zulassen, dass Flüchtlinge aktiv mit entscheiden oder Verantwortung übernehmen können.

Wie kann es praktisch gelingen, diesen angesprochenen Bewusstseinswandel hin zu einer interkulturellen Haltung zu vollziehen? Was braucht es für Fähigkeiten und Kompetenzen?

Wichtig ist, seine eigene Haltung zu reflektieren, das ist der erste Schritt. Wir müssen als Akteure der Aufnahmegesellschaft vorhandene persönliche und gesellschaftliche Vorurteile, Rassismen und Konflikte offen legen und benennen. Das heißt, die eigene Haltung, die eigene Konfliktfähigkeit und Toleranz voran zu bringen. Und das hat dann eine Signalwirkung an die Zugewanderten, die ihrerseits eine interkulturelle Haltung aufbauen müssen. Denn da kommen ja unterschiedliche Menschen mit beispielsweise unterschiedlichem religiösem Background zusammen, die untereinander auch Vorurteile und Konflikte haben. Wir dürfen aber keine Angst haben vor Konflikten, weil Konflikte ein enormes Entwicklungspotenzial bieten.

Sind Konflikte eine Voraussetzung für Integration?

Konflikte sind ein Katalysator. Wenn ich Konflikte erkenne, sie benenne und bearbeite, dann habe ich die Chance, mich weiter zu entwickeln. Das ist ja die Trias des Demokratisierungsprozesses: Ich habe auf der einen Seite die demokratische Grundhaltung, ich habe Partizipation als eine Form der erlebten und gelebten Demokratie, und dann habe ich eine Konfliktkultur im demokratischen Sinne, die es mir ermöglicht, Pluralität auszuhalten, andere Meinungen, andere Menschen wahrzunehmen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Und da auch Vorbild zu sein für Menschen, die aus Ländern kommen, in denen es überhaupt keine demokratische Kultur gibt, wo das Thema Anerkennung und freie Meinungsäußerung nie gelebt wurde. Hier sehe ich die Chance, dass man Demokratie gemeinsam lebt und lernt.

Also ist Integration auch ein Prozess des Demokratielernens, der von allen Menschen, die hier leben, geleistet werden muss?

Definitiv. Demokratie ist ja nicht in Stein gemeißelt, es ist eine Haltung, es ist ein Lernweg, aber auch ein Lernziel. Demokratie ist nicht nur ein Verfassungsgebot, sondern ich muss es mit Leben füllen. Insofern bietet das Thema Flucht und Migration die Chance, das demokratische Entwicklungspotenzial unserer Gesellschaft enorm zu stärken.

Das vollständige Videogespräch unter
http://www.mitarbeit.de/tuncay_interview_integration2016.html