mitarbeiten (1/2019)

»Leitlinien sind die Grundlage«

Im März 2014 hat die Bundesstadt Bonn als eine der ersten Kommunen in Deutschland Leitlinien für Bürgerbeteiligung verabschiedet und sie verbindlich im Ortsrecht verankert. Die Erarbeitung der Leitlinien fand im Dialog zwischen Verwaltung, Politik und Bürgerschaft statt. Die Stiftung Mitarbeit hat den partizipativen Prozess und die Entstehung der Leitlinien fachlich begleitet. Nach fünf Jahren Praxiserfahrungen zieht Dirk Lahmann, Leiter der Koordinierungsstelle Bürgerbeteiligung bei der Stadt Bonn, im Gespräch eine erste Zwischenbilanz.

Herr Lahmann, seit 2014 gelten die Leitlinien Bürgerbeteiligung in Bonn. Wie haben sich dadurch die Bürgerbeteiligung und die Beteiligungspraxis in Bonn verändert?


Dirk Lahmann: Ich glaube, da gibt es unterschiedliche Sichtweisen, je nachdem, welche Akteure man fragt. Als Mitglied der Verwaltung würde ich sagen, dass sich auf Verwaltungsebene langsam, aber doch merklich ein Bewusstseinswandel im Hinblick auf Bürgerbeteiligung eingestellt hat. Die Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Bürgerbeteiligung ganz selbstverständlich in ihren Arbeitsbereichen und ihren Planungsprozessen mitdenken, wird immer größer. So werde ich beispielsweise regelmäßig in die Bauleitplankonferenzen des Planungsamtes eingeladen, um frühzeitig gut informiert zu sein.

Daraus ergeben sich dann Folgefragen: Was gehört frühzeitig auf die Vorhabenliste? Wo muss man schon jetzt kritisch vorausdenken, weil man weiß, an der einen oder anderen Stelle im Prozess tauchen Initiativen und Proteste auf? Wie kann man das direkt ins Konzept integrieren? Reichen die klassischen Varianten der Beteiligung aus oder müssen wir da was vorschalten? Wird die Politik noch aktiv und was soll von vornherein mit in die entsprechenden Beschlussvorlagen aufgenommen werden? Das sind so Dinge, da hätte früher niemand dran gedacht.  

Sie haben die Vorhabenliste angesprochen, die im Rahmen der Leitlinien ein ganz wichtiges Instrument ist, um frühzeitig Informationen über beteiligungsrelevante Vorhaben in die Stadtgesellschaft und in die Politik zu kommunizieren. Wie klappt die Umsetzung der Vorhabenliste in der Praxis?

Vor dem Hintergrund, dass die Vorhabenliste für die Verwaltung eine komplett neue Anforderung war, läuft es im Grunde gut. Trotzdem ist es auch mühevoll, wir sehen beispielsweise Schwierigkeiten im Monitoring der Liste. So aktualisieren wir sie im Moment nur zweimal im Jahr, obwohl die Leitlinien eine Aktualisierung viermal im Jahr vorsehen. In Bonn erhalten die Ämter von uns zweimal pro Jahr die Aufforderung, ihre aktuellen Vorhaben zu benennen, dafür gibt es ein elektronisches Formular, das sie ausfüllen müssen. Das wird dann von uns redaktionell bearbeitet, in die Vorhabenliste integriert und dann auf der stadteigenen Partizipationsplattform ins Internet gestellt.

Ein weiteres Problem ist, dass wir die Liste so aktuell halten wollen, dass sie dem tatsächlichen Stand der Planung entspricht. Da wünschen wir uns eine noch intensivere Zulieferung über die Ämter. Wir haben auch immer wieder die Situation, dass es in den Gremien plötzlich eine Beschlussvorlage für irgendein Thema gibt, welches eindeutig auf die Vorhabenliste gehört hätte, aber nicht drauf war. Zukünftig werden diese Vorlagen erst dann beraten, wenn sie zuvor mindestens drei Monate auf der Vorhabenliste gestanden haben und sie im Beirat und im Bürgerausschuss (=Ausschuss für Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger und Lokale Agenda, Anm. d. Redaktion) diskutiert worden sind.

Wird die Vorhabenliste von den Bürger/innen überhaupt nachgefragt? Welche Rückmeldungen erhalten Sie?

Die Vorhabenliste wird sogar sehr stark nachgefragt. Und das ist etwas, was ich so in der Form gar nicht für möglich gehalten habe. Wir legen sie ja zum Beispiel an bestimmten Stellen in der Stadt als Druckexemplare und bei Bürgerbeteiligungsveranstaltungen aus und sie können im Internet runtergeladen werden. Hier sehen wir an den Zugriffszahlen, welch großes Interesse es daran gibt. Auch die gedruckten Exemplare sind häufig vergriffen.

Zudem gibt es regelmäßig Rückmeldungen und Fragen der Bürger/innen, zum Beispiel, warum das ein oder andere Vorhaben nicht auf der Liste steht. Viele sind in der Regel zu Recht nicht aufgeführt, weil es private Bauvorhaben oder laufende Geschäfte der Verwaltung sind, die auf der Vorhabenliste nichts zu suchen haben. Wir haben aber auch schon Anregungen aus der Bürgerschaft erhalten, bestimmte Projekte auf die Vorhabenliste zu setzen.

Neben der Vorhabenliste gibt es noch einen paritätisch besetzten Beirat Bürgerbeteiligung. Wie hat sich dieses Gremium bewährt?

Über alle Maßen gut. Und das liegt natürlich an der paritätischen Besetzung des Beirats, der ja eigentlich ein informelles Ratsgremium ist, das es bundesweit in der Form kaum ein zweites Mal gibt. Dort herrscht einfach eine komplett andere Gesprächs– und Arbeitsatmosphäre, als es sonst zum Beispiel in politischen Ausschüssen üblich ist. Die Erfahrung zeigt, dass im Beirat die Konsenssuche tatsächlich immer im Vordergrund steht. Es ist stets die Frage, wie kriegen wir eine gemeinsame Linie bei den einzelnen Projekten hin? Die Diskussion ist sehr offen, sie ist häufig auch sehr kritisch. Dabei gibt es immer wieder überraschende Allianzen, da stimmen dann plötzlich die Bürger/innen gemeinsam mit der Verwaltung ab, oder die Politik stimmt mit den Bürger/innen. Seiner Aufgabe, Empfehlungen an den zuständigen Fachausschuss zu geben, kommt der Beirat wirklich vorbildlich nach.

Übrigens stehen demnächst die Nachbesetzungen an, da wir uns am Ende der ersten Legislaturperiode des Beirats befinden. Und erstaunlicherweise wollen die meisten Verwaltungsmitarbeiter/innen und Bürger/innen weitermachen und sich nicht ersetzen lassen. Wie das bei der Politik aussieht, muss man sehen (Lacht).

Wie hat sich die Praxis der Bürgerbeteiligung in Bonn verändert?

Zum einen hat sich verändert, dass Koordinierungsstelle, Beirat und Bürgerausschuss viel intensiver auf die von Externen andernorts durchgeführten Beteiligungsverfahren gucken: Was läuft da anders, was läuft besser? Das war früher so nicht der Fall. Ich glaube, dass sich allein dadurch schon etwas verändert.

Zum anderen beginnen Teile der politischen Parteien in Bonn erst jetzt zu entdecken, wie wirkmächtig die Leitlinien sind und dass man sozusagen über den Umweg des Beirates und des Bürgerausschusses andere Gremien beeinflussen kann. Diese Teil-Politisierung der Bürgerbeteiligung hat auch Nachteile, weil sie die Konsenssuche schwieriger macht. Auch mit der Folge, dass wir uns im Beirat und im Bürgerausschuss häufiger über die formalen Aspekte intensiver unterhalten müssen als über die eigentlichen Beteiligungsmaßnahmen und Beteiligungsinhalte.
 
Für den Erfolg von Leitlinien ist es wichtig, dass sie keine unverbindliche Sammlung von Absichtserklärungen sind. Wie beurteilen Sie die rechtliche Verankerung von Leitlinien, gerade wenn sich Ratsmehrheiten oder die politische Farbe des Oberbürgermeisters ändern?
 
Äußerst positiv. In der Tat hat es 2015 nach der letzten Kommunalwahl in Bonn einen Einschnitt gegeben, es gab einen neuen Oberbürgermeister und auch eine neue Zusammensetzung der Ratsmehrheit. Für die Akzeptanz der Leitlinien ist es bis heute sicher gut, dass sie seinerzeit mit einer großen und überparteilichen Mehrheit einstimmig beschlossen und ins Ortsrecht überführt worden sind, das ist etwas, was man nicht von heute auf morgen wieder kippt. Alle sind sich einig, dass dieser Beschluss Bestand hat. Und das hat sich auch nicht geändert im Übergang zwischen den beiden Oberbürgermeistern.

Was halten Sie für wichtig, um die Beteiligungskultur in Bonn weiterzuentwickeln?

Die Leitlinien sind die Grundlage. Aber es ist natürlich viel Aufklärungsarbeit zu leisten, in Bevölkerung und Stadtgesellschaft. Ich glaube aber, dass der Rahmen, den wir mit den Leitlinien haben, völlig ausreicht, um das entsprechend nach vorne zu bringen. Es muss dafür der politische Wille da sein, aber der ist in Bonn vorhanden.

Obwohl der Politik in Bonn durch Bürgerbeteiligung auch Grenzen aufgezeigt wurden, dass muss man sich ehrlich eingestehen. Und dann kommt natürlich die Frage auf, müssen wir die Bürger/innen vielleicht doch noch früher mit ins Boot holen? Und müssen wir uns nicht noch intensiver bemühen? Das ist so ein Effekt, der durchaus positiv ist.

Zum Video-Gespräch mit Dirk Lahmann