mitarbeiten (4/2019)

»Leitlinien sind eine Selbstverpflichtung zum Dialog«

Dialogische Bürgerbeteiligung, Bürgerbegehren und Bürgerentscheide sind Teil der lokalen Demokratie. Zugleich ist das Verhältnis und das Zusammenspiel beider Ansätze vor Ort nicht immer einfach. Dr. Christine von Blanckenburg, Bereichsleiterin Bürgergesellschaft beim Berliner nexus Institut, spricht im Interview über ihre ambivalenten Erfahrungen mit dialogischer Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie. Sie zeigt, wie sich beide Ansätze verbinden lassen und wieso Dialog grundsätzlich wichtig für die lokale Demokratieentwicklung und politische Kultur ist.  

Bürgerbegehren, Bürgerentscheide und dialogische Formen der Bürgerbeteiligung gehören in Deutschland auf kommunaler Ebene seit vielen Jahren zum Alltag. Welche Erfahrungen haben Sie in ihren Arbeitszusammenhängen mit beiden Formen gemacht?

Wir haben 2014 beispielsweise im Auftrag des Berliner Senats eine Planungszelle mit 75 zufällig ausgewählten Berlinerinnen und Berlinern zur möglichen Bebauung des Tempelhofer Feldes durchgeführt, deren Ergebnisse in einem Bürgergutachten zusammengefasst wurden. Zugleich liefen aber bereits die Vorbereitungen für den später erfolgreichen Volksentscheid, der sich ja grundsätzlich gegen eine Bebauung ausgesprochen hat. Das hat letztendlich dazu geführt, dass die im Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern erarbeiteten Ergebnisse der Planungszelle Makulatur waren. Das sind nicht ganz so beglückende Erfahrungen gewesen.

Unabhängig von dem konkreten Berliner Sachverhalt lassen sich an diesem Beispiel aber die Stärken und Schwächen von dialogischer und direkter Demokratie gut beleuchten. Dialogische Verfahren sind immer abhängig vom Auftraggeber, die Umsetzung der Ergebnisse ist nicht immer gesichert, die öffentliche Wirkung und Wahrnehmung begrenzt. Und auf der anderen Seite haben wir die entscheidungsorientierte direkte Demokratie, die die Bevölkerung aktivieren, eine große öffentliche Wirkung und Aufmerksamkeit erzielen kann und die dafür sorgt, dass sich manchmal mehr Menschen an der Abstimmung beteiligen, als zur Wahl gehen.

Ein Nachteil der direkten Demokratie ist jedoch meiner Ansicht nach, dass man gelegentlich auch keine Problemlösung hat. Die Frage, wie Berlin mit der Tempelhofer Freifläche umgehen soll, beschäftigt die Stadt beispielsweise bis heute. Eine weitere Erfahrung ist, dass direktdemokratische Entscheidungen nicht selten überwölbt werden durch Motive, die mit der eigentlichen Sachfrage wenig zu tun haben. In Berlin war der Volksentscheid seinerzeit auch eine Abstimmung über die Politik und die Person des damaligen Bürgermeisters, das hatte ja nicht direkt etwas damit zu tun, ob man bauen will und wie man bauen will.

Ein häufiger Vorwurf lautet, dass bei direktdemokratischen Entscheidungen nur mit Ja oder Nein abgestimmt werden kann und die Fragestellung der Komplexität des Problems häufig nicht gerecht wird.

Das ist in der Tat das Kennzeichen eines Bürgerentscheids oder eines Volksentscheids, es gibt kein Dazwischen und keinen Kompromiss. Zusammen mit der durchaus nötigen Emotionalisierung der Debatten trägt direkte Demokratie so zur Polarisierung bei, die negative Auswirkungen auf das Zusammenleben in der Kommune haben kann. Es gibt aber auch Beispiele auf lokaler Ebene, dass die Ankündigung eines Bürgerbegehrens Politik und Verwaltung anspornt, sich gleich mit den Initiatoren an einen Tisch zu setzen und gemeinsam nach Kompromissen zu suchen.

Wie lässt sich eine Verbindung zwischen dialogorientierten und direktdemokratischen Beteiligungsverfahren organisieren?

Die Frage, wie sich die Stärken, die es auf beiden Seiten gibt, miteinander verbinden lassen, wird im Moment sehr viel diskutiert. Also auf der einen Seite das Ausgewogene, die Suche nach Kompromiss, das Abwägen der Argumente und die Einbeziehung aller relevanten Akteure und auf der anderen Seite die Durchsetzungsstärke von direkter Demokratie. Eine gute Ergänzung wäre es, jedem Bürgerentscheid ein dialogisches Verfahren möglichst mit einer Zufallsauswahl der Teilnehmenden vorzuschalten, das zum Beispiel die Argumente und die unterschiedlichen Sichtweisen für die Bürgerinnen und Bürger transparent macht. Ob die Bürgerinnen und Bürger, die dann abstimmen, dass tatsächlich auch zur Kenntnis nehmen, ist nochmal etwas anderes.

Auch Leitlinien für Bürgerbeteiligung sind natürlich eine Möglichkeit, im Vorfeld schon ganz viel an Konfliktpotential abzuräumen, in dem die Konflikte auf eine geregelte Art und Weise miteinander geklärt und ausgehandelt werden. Wenn man Leitlinien macht, ist es ja eine Selbstverpflichtung zum Dialog. Überspitzt gesagt, entstehen Bürgerbegehren und Bürgerentscheide immer dann, wenn im Vorfeld nicht genug beteiligt und geregelt wurde. Allerdings zeigt die Erfahrung, dass nicht jeder Konflikt in der Kommune beizulegen ist, deshalb wird es auch weiterhin Bürgerentscheide geben.

Trägt die direkte Demokratie zur Stärkung der lokalen Dialogkultur bei?   

Das hängt sehr vom Einzelfall und dem Thema ab und lässt sich nicht pauschal beantworten. Meiner Erfahrung nach gibt es aber durchaus problematische Wirkungen im Vorfeld von Bürgerentscheiden im Hinblick auf kommunale Dialogkultur. Durch die Polarisierung und Emotionalisierung der Debatte wird nicht selten ein aufgeheizter Ton angeschlagen, der den jeweils anderen beispielsweise die Durchsetzung von Partikularinteressen vorwirft. Die Polarisierung kann auch zum Verlust von Vertrauen führen, innerhalb der Bevölkerung und Zivilgesellschaft oder Politik und Verwaltung gegenüber. Zumal immer die Gefahr der populistischen Instrumentalisierung direkter Demokratie besteht.

Mein Eindruck ist, dass die direkte Demokratie den sachlichen Austausch von Argumenten manchmal eher verhindert. Die Prozessgestaltung der direkten Demokratie bietet kaum einen Rahmen für einen echten Austausch. Direkte Demokratie produziert immer Gewinner und Verlierer, das sollten wir aber so gut es geht vermeiden. Deshalb ist es wichtig, den häufig emotional geführten direktdemokratischen Kampagnen durch eine Verbesserung der lokalen Dialog- und Beteiligungskultur etwas entgegen zu setzen. Dialog verbessert übrigens auch die Qualität der Entscheidungen.

Das vollständige (Video-)Interview in Kürze unter www.mitarbeit.de/publikationen/video_gespraeche