Projekt des Monats (02/2018)

»Performing Genshagen« – Entdeckungsreisen durch ein Dorf

Dieses Kunst- und Performanceprojekt im ländlichen Raum hatte zum Ziel, die Strukturen, Trennlinien und Schnittpunkte der Generationen in der Dorfgesellschaft künstlerisch zu verarbeiten und bei mehreren Aufführungen an verschiedenen Orten des Dorfes sichtbar zu machen. Junge und ältere Bewohner/innen des Dorfes Genshagen machten mit. Sie trafen im Rahmen von Erkundungstouren durch das Dorf auf Menschen aus der Dorfgemeinschaft, kamen mit ihnen ins Gespräch und setzten sich mit der Identität des Ortes auseinander. Die Rechercheergebnisse bildeten die Grundlage für künstlerisch anspruchsvolle, individuelle Performances, die von den Teilnehmer/innen entwickelt und dann mehrmals an verschiedenen Orten im Dorf aufgeführt wurden. Die Performances und ihre Rezeption eröffneten neue Perspektiven auf den Ort und setzten neue Impulse für das Zusammenleben der verschiedenen Generationen.

Eine Gruppe »Dorfforscherinnen« und »Dorfforscher« auf Entdeckungstour und jede Menge »Dorfneugierige« im Schlepptau: Dieses Bild bot sich bei den drei Abschlussaufführungen des Projektes »Performing Genshagen«. Der Kunst- und Kulturverein VorOrtung e.V. initiierte mit dem etwas anderen Theaterprojekt eine Generationen verbindende Forschungsreise durch vermeintlich vertraute Orte, im Zentrum: der Ortsteil Genshagen im brandenburgischen Ludwigsfelde.

Forscher/innen gesucht

»Performing Genshagen« zielte darauf ab, Menschen mithilfe gemeinsamer künstlerischer Arbeit zusammenzubringen und ein Bewusstsein für das Dorf als Basis für neue Begegnungen anzuregen. Im April 2017 wurden Interessierte aus dem Dorf und dem Umland über verschiedene Kanäle eingeladen mitzumachen: über Aushänge im Klubhaus der Stadt Ludwigsfelde, über die Kanäle der Akademie 2. Lebenshälfte im Land Brandenburg e.V., über lokale Zeitungen und Mundpropaganda. Schnell fand sich eine Gruppe motivierter Schauspieler/innen zwischen 12 und 77 Jahren zusammen. Einige davon lebten in Genshagen, andere kannten das Dorf nur vom Vorbeifahren.  Bei der künstlerischen Erforschung des Ortes kamen verschiedene Methoden zum Einsatz: Performance-Art, biografische Theatermethoden, ortsspezifisches Arbeiten, künstlerische Feldforschung, Recherchen zum Dorf mit kleinen Aufgaben (Fotos machen, in der Dorfchronik recherchieren, Gespräche mit den Menschen vor Ort führen), Spaziergänge mit Wahrnehmungsaufgaben und kreatives Schreiben. Im Rahmen mehrerer Aufführungen wurde die Forschungsarbeit auch gemeinsam mit Publikum durchgeführt. In den ersten Proben sammelten die Teilnehmer/innen, was sie über Genshagen wussten und welche Orte sie im Dorf schon kannten. Außerdem erfanden sie gemeinsam Geschichten über den Ort. Die Gruppe spazierte an ausgewählte Plätze im Dorf: zum Schloss, über den Gutshof, zur Kirche, zum Friedhof, zur Dorfstube, zum Pferdehof und zum Wohnpark. Diese Spaziergänge waren immer verbunden mit Fragen: Was fällt auf? Welche Assoziationen hast du zu dem Ort? Verleitet dich der Ort zu etwas?

Schließlich suchte sich jede Darstellerin und jeder Darsteller einen Ort aus und entwickelte aus eigenen Erfahrungen und Recherchen ein Thema und einen ästhetischen Ansatz. Wo möglich, sprachen sie mit Dorfexpert/innen. Zum Beispiel führte der Pfarrer durch die Kirche und eine Mitarbeiterin der Stiftung Genshagen durch das Ende des 19. Jahrhunderts im Ort errichtete Schloss. Eine Genshagenerin stellte den Teilnehmer/innen die Dorfchronik zur Verfügung, die ihr Mann zusammengestellt hatte.

Während des Dorffestes stellte die Gruppe eine große Box auf, in die Dorfbewohner/innen ihre eigenen Geschichten über Genshagen einwerfen konnten. So gelang es, auch zu jenen Menschen Kontakte herzustellen, die nicht selbst mitprobten. Verstärkt wurde diese Verbindung durch die Sichtbarkeit der Performance-Proben, die oft mitten im Dorf stattfanden. Die Darsteller/innen, die selbst in Genshagen wohnten, erzählten, dass sie mehrfach auf die Proben und das Projekt angesprochen wurden. Diese Aufmerksamkeit übertrug sich auf die drei Aufführungen Anfang Oktober 2017, die von etlichen Dorfbewohner/innen besucht wurden..

Genshagen performt

Als »Dorfforscher/innen« führten die Teilnehmer/innen das Publikum – angeführt vom jungen Forschungsleiter Diemo – an die Orte der Performances. Die Themen der Darbietungen waren mal biografisch, mal historisch. So handelte eine Erzählperformance von einem Baum am Dorfanger, an dem der Teilnehmer täglich vorbeispazierte. In einem sehr persönlichen Moment auf dem Friedhof stellte eine andere Darstellerin das Urnengrab vor, in dem sie einmal begraben sein möchte. Eine dritte Teilnehmerin hatte sich entschlossen, dem Publikum in der Dorfkirche ihren Bezug zu Genshagen und zur Religion vor Augen zu führen, indem sie sich mit Papier einwickelte.

Historisch wurde es, als ein Teilnehmer sich und das Publikum 200 Jahre in die Vergangenheit zurückversetzte und die Zuschauer/innen den Dorfschulzen von Genshagen vor dem Schloss dabei beobachten konnten, wie er für sich und sein Dorf Schutz vor den französischen Soldaten der Napoleonischen Kriege forderte. Eine weitere Performance war ebenfalls einem dunklen geschichtlichen Kapitel des Ortes gewidmet: Eine Darstellerin versuchte, einen großen Stein am Wegesrand zu verschieben – und las anschließend aus den Erinnerungen einer der vielen NS-Zwangsarbeiterinnen im KZ-Außenlager Genshagen vor.

Die Dorfforscher/innen führten das Publikum von Ort zu Ort und bespielten die Wege. Dieser gemeinsame Rahmen wurde durch die Ausstattung verstärkt: An allen Performance-Orten verwendete die Gruppe Packpapier – entweder als Requisite oder zur visuellen Rahmung. Zum Schluss der Spaziergänge ging es in die Räume der Brennerei auf dem Gutshof. Dort lag das »Forschungszentrum«, in dem alle Funde, die im Spaziergang keinen Platz gefunden hatten, ausgestellt waren und wo sich Publikum und »Dorfforscher/innen« austauschen konnten.

Herausforderungen und Erfolge

Die Teilnehmer/innen selbst durchlebten im Proben- und Aufführungsprozess verschiedene Phasen: Der jüngste Spieler entwickelte sich von einem eher zurückhaltenden Zwölfjährigen zu einem selbstbewussten »Forschungsleiter«. Eine ältere Spielerin war massiv geh- und sehbehindert: Sie stellte sich in jeder Probe diesen Beeinträchtigungen und entwickelte eine mutige Performance in der Dorfkirche. Dass die Gruppe sich über alle Generationen, Geschlechter und Herkunftsorte zusammenfand, war ein voller Erfolg. Die Gruppe und das Publikum haben Genshagen gemeinsam neu entdeckt. Alltägliche Orte konnten durch die künstlerische Rahmung aus einer anderen Perspektive gesehen und erlebt werden. Während der Aufführungen und im »Forschungszentrum« kam es zu einem intensiven Austausch zwischen Darsteller/innen und Publikum. Darüber hinaus wurde das Projekt selbst in die Dorfchronik eingetragen und damit Bestandteil der offiziellen Dorfgeschichte. Teile der Ausstattung wurden dem Museum Ludwigsfelde übergeben.

Bis zum Sommer gab es eine deutliche Fluktuation unter den Teilnehmer/innen. Anfangs waren auch einige Geflüchtete begeistert bei den Proben dabei. Aus verschiedenen Gründen (neuer Job, Sprachkurse zur gleichen Uhrzeit, lange Abwesenheit im Fastenmonat Ramadan) konnten sie aber das Projekt nicht bis zum Ende mitmachen. Zwei weitere Spielerinnen aus Genshagen mussten aus beruflichen bzw. gesundheitlichen Gründen zwischenzeitlich aus dem Projekt aussteigen. Die ortsspezifische Arbeit brachte wiederum logistische Herausforderungen mit sich. So lagen zwischen den Spielorten längere Distanzen, sodass bereits während der Proben genügend Zeit für die Wege einzuplanen war. Auch der Einfluss des Wetters war spürbar. So musste die Generalprobe sogar abgesagt werden, weil an diesem Tag der Sturm »Xavier« in Genshagen wütete.

Inhaltlich brachte das Projekt viel Unbekanntes zu Tage: zum relativ neu entdeckten Genshagener Bunker, zu den NS-Zwangsarbeiterinnen in Genshagen, zu historischen Geschehnissen rund um die Napoleonischen Kriege. Aber auch zur Geschichte der Dorfkirche, zur Architektur des Schlosses und zum täglichen Leben im Ort. »Performing Genshagen« wirkt nach: Dorfbewohner/innen berichteten, dass sie das Dorf nun auch im Alltag anders wahrnehmen. Die Darsteller/innen aus Genshagen werden im Dorf erkannt und angesprochen. Und für das Publikum aus der Umgebung ist Genshagen nicht mehr nur ein Dorf, an dem man vorbeifährt.

Kontakt und weitere Informationen

VorOrtung e.V. – zeitgenössische Kunst und Kultur im Kontext
Sharon On & Laura Söllner
Genshagener Dorfstraße 2
14974 Ludwigsfelde
Web: www.vorortung.de
Mail: vorortung(at)gmail.com

Weitere Förderer: Plattform Kulturelle Bildung Brandenburg, Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg, Bildungs-, Jugend-, Kultur- und Sportstiftung Teltow-Fläming der Mittelbrandenburgischen Sparkasse in Potsdam

Fotos: Sabine Kuhn

Ansprechpartner für das Programm »Werkstatt Vielfalt«

Björn Götz-Lappe & Timo Jaster
Stiftung Mitarbeit
Ellerstraße 67
53119 Bonn
Tel. (02 28) 6 04 24-12/-17
Fax. (02 28) 6 04 24-22
E-Mail:goetz-lappe(at)mitarbeit.de
jaster(at)mitarbeit.de