Projekt des Monats (09/2018)

»Habibi… oder was?« – Ein integratives Theaterprojekt mit Musik

Mit Improvisationstheater, biografischen Theatermethoden und musikpädagogischen Übungen entwickelten unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aus Wohngruppen des Jugendhilfeverbunds Kinderheim Rodt sowie einheimische jugendliche und erwachsene Schauspielinteressierte in wöchentlichen Treffen ein Stück, das dreimal zur Aufführung gebracht wurde. Die Inszenierungen erfolgten in Form von Theaterspaziergängen, bei denen die Schauspieler/innen dem Publikum an verschiedenen Stationen kürzere und längere Szenen präsentierten. Das Projekt ermöglichte regelmäßige soziale Kontakte zwischen Geflüchteten und Einheimischen. In der Beschäftigung mit den unterschiedlichen Lebensgeschichten der Protagonist/innen wuchs das Verständnis untereinander und es entstanden freundschaftliche Beziehungen über das Theaterspiel hinaus.

»Habibi... oder was? « fragte ein integratives Theaterprojekt mit Jugendlichen und Erwachsenen in Loßburg. Der Begriff »Habibi« kommt aus dem Arabischen und bedeutet »Geliebter«, »Freund« oder je nach Kontext auch »Freundchen«. Also: Bist du ein Freund – oder doch nicht? Wer bist du und was bin ich für dich? Gemeinsam erarbeitete die Theatergruppe eine ungewöhnliche Freiluftvorstellung. Diese setzte die Erlebnisse von Geflüchteten mit all ihren kleinen »großen« Geschichten künstlerisch in Szene – vom Verlassen der »alten« Heimat, vom Ankommen in einer neuen Heimat, vom Verstehen und Nichtverstehen. Das Projekt entstand in einer Kooperation zwischen dem Jugendhilfeverbund Kinderheim Rodt der BruderhausDiakonie und der Bundesakademie für musikalische Jugendbildung in Trossingen. Die Produktionsleitung übernahm eine Sozialpädagogin des Jugendhilfeverbunds.

Erfahrungsschätze heben – die Proben

Im Projekt kamen minderjährige Geflüchtete aus Syrien, Afghanistan, Albanien, Gambia und Eritrea, die im Kinderheim Rodt leben, sowie jüngere und ältere Interessierte aus Loßburg zusammen. Über ein halbes Jahr traf sich die Schauspieltruppe einmal wöchentlich sonntags. Zunächst ging es darum, sich kennen zu lernen und etwas voneinander zu erfahren: Jede und jeder brachte einen Rucksack voller Erfahrungen mit, der sinnbildlich nach und nach ausgepackt wurde. Die Teilnehmer/innen erzählten sich gegenseitig, was sie erlebt hatten, welche Ängste und Gefühle ihren Alltag bestimmten, welche Erwartungen sie hatten und mit welchen Enttäuschungen sie sich auseinandersetzen mussten. Die Erlebnisse wurden einander in kleinen Szenen vorgespielt und in einem lebendigen Austausch entstand aus vielen einzelnen Teilen ein gemeinsames Stück. Die Gruppe einigte sich auf 13 Szenen, die unter Anleitung eines professionellen Regisseurs gemeinsam arrangiert wurden.

Neben den Grundlagen des Theaterspielens lernte die Gruppe auch, wie Szenen mit Musik untermalt werden können und auf diese Weise noch mehr Ausdruck bekommen. Ein Musiker und Instrumentalpädagoge, der sich – begeistert vom Projekt – selbst als Schauspieler einbrachte, musizierte mit der Gruppe experimentell und situativ. Aus vorgegebenen Stimmungen und Bewegungen leiteten die Teilnehmer/innen rhythmische und melodische Improvisationen ab. Es kamen Klanginstrumente wie Gongs, Eisenklangstäbe, Kniehölzer, Holzklöppel, Harfen, Rasseln, Rythmusinstrumente wie Trommeln und Djembés sowie Melodieinstrumente wie das Akkordeon, die Violine, das Cello und natürlich die Stimme zum Einsatz. Bei jeder Probe enstanden einmalige und nicht wiederholbare musikalische Momente, die unter den Gruppenmitgliedern ein starkes Gefühl der Verbundenheit schufen. Der Musikpädagoge förderte gezielt die Begabungen einzelner Jugendlicher und machte auch diejenigen ohne musikalische Vorerfahrungen mit verschiedenen Instrumenten vertraut.

Neue Wege entstehen dadurch, dass man sie geht – die Aufführung

Die Szenen, die schließlich zur Aufführung kamen, waren bereits in den Proben sehr emotional, sodass der Regisseur manche Sequenzen ein wenig abstrahierte, um keine Retraumatisierungen zu verursachen. Direkt vor der Premiere traf sich die Schauspieltruppe eine ganze Woche lang täglich zu Proben und Vorbereitungen. Die Presse berichtete und machte die Bevölkerung neugierig auf die Aufführungen.

Das Stück »Habibi… oder was? oder: So kann es auch gewesen sein« wurde schließlich an drei ausverkauften Terminen im Juli 2018 vor jeweils ca. 130 Zuschauer/innen auf dem Gelände des Kinderheims Rodt in Form eines Theaterspaziergangs aufgeführt. Das Publikum zog bei dieser Präsentationsform mit den Protagonist/innen von einem Schauplatz zum nächsten und erlebte eine Collage aus szenischen Bildern – mal ernsthaft, mal heiter – , ergänzt durch literarische Texte.

Da die Zuschauer/innen so mitten im Geschehen waren, wirkte das Spiel ungleich eindringlicher und es eröffnete sich stellenweise ein interaktiver Raum – etwa wenn die wandernde Zuschauergruppe auf der Mattscheibe eines Fernsehers auftauchte, den zwei der jungen Geflüchteten aus Wohnzimmersesseln heraus betrachteten. Bei solchen Rollenwechseln erlebten die Zuschauer/innen, wie es sich anfühlt, wenn man als Geflüchtete in ein fremdes Land zieht, in dem man nicht willkommen ist. Als ein Beitrag zu einem aktuellen gesellschaftlichen Thema und an einigen Stellen bewusst polarisiernd, löste die Inszenierung einen Austausch zwischen allen in die Aufführung Involvierten aus.

Mehr Verständnis und neue Freundschaften – die Resonanz

Die Zuschauer/innen zeigten sich an allen drei Abenden sehr berührt und beeindruckt von der ausdrucksstarken Darbietung und applaudierten ausgiebig. Nach den Aufführungen blieben viele von ihnen noch in der als »Ankerzentrum« inszenierten Kulisse, um etwas zu essen oder zu trinken und mit den »Habibis« ins Gespräch zu kommen. Es entstand sowohl innerhalb der Schauspieltruppe als auch bei den Zuschauer/innen ein Verständnis für das Unbekannte und eine emotionale Nähe zu den Erlebnissen von Menschen anderer Herkunft.

Dadurch wurden Vorbehalte und Ängste gegenüber Fremden auf allen Seiten abgebaut. Noch Wochen und Monate nach den Aufführungen erreichten die Projektverantwortlichen positive Rückmeldungen und Eindrücke zur Aufführung.

Nicht alle Teilnehmer/innen, die am Anfang des Projektes mit dabei waren, wirkten bei der Aufführung mit. Ein junger Flüchtling verließ die Gruppe wieder, ein anderer wurde während der Vorbereitungszeit wieder in sein Herkunftsland abgeschoben. Bei zwei Nachbesprechungen wurde ganz deutlich, wie eng diejenigen, die dabei blieben, von Mal zu Mal mehr zusammengewachsen waren. Zudem wurde deutlich, welch freundschaftliche Beziehungen sich in den zurückliegenden Monaten entwickelt hatten.

Kontakt und weitere Informationen

BruderhausDiakonie
Stiftung Gustav Werner und Haus am Berg
Jugendhilfeverbund Kinderheim Rodt
Erika Sauter-Bartholomä
Masselstraße 2
72290 Loßburg
Web: www.kinderheim-rodt.de / www.habibioderwas.de
Mail: jkr(at)bruderhausdiakonie.de

Fotos: Klaus Dezember (www.k-dezember.de)

Ansprechpartner für das Programm »Werkstatt Vielfalt«

Björn Götz-Lappe & Timo Jaster
Stiftung Mitarbeit
Ellerstraße 67
53119 Bonn
Tel. (02 28) 6 04 24-12/-17
Fax. (02 28) 6 04 24-22
E-Mail:goetz-lappe(at)mitarbeit.de
jaster(at)mitarbeit.de