mitarbeiten (1/2010)
»Die Jugendlichen sollen sich in unserer Gesellschaft zu Hause fühlen«
Giò di Sera ist der diesjährige Preisträger des Freiherr-vom-Stein-Preises für gesellschaftliche Innovation. Er wurde für sein Projekt StreetUniverCity Berlin (SUB) ausgezeichnet. Die SUB versteht sich als eine außerschulische Einrichtung für soziale, kulturelle und politische Jugendbildung, die benachteiligten Jugendlichen aus den Problembezirken der Hauptstadt einen »Dritten Bildungsweg« außerhalb etablierter Bildungsstrukturen ermöglicht. Der Freiherr-vom-Stein-Preis für gesellschaftliche Innovation wird seit 2007 gemeinsam von der Hamburger Alfred Toepfer Stiftung F.V.S., der Stiftung MITARBEIT und der Humboldt Universität Berlin verliehen. Er ist mit 25.000 Euro dotiert.
Im Rahmen der StreetUniverCity können Jugendliche, von denen viele über einen Migrationshintergrund verfügen, in verschiedenen Fachbereichen einen »Streetmaster« machen. Dieser Bildungsabschluss dokumentiert Fähigkeiten und soziale Kompetenzen, die nicht nur beim Einstieg ins Berufsleben helfen. »Die StreetUniverCity will vor allem diejenigen Jugendlichen erreichen, die durch alle herkömmlichen Bildungssysteme gerutscht sind. Wir verknüpfen internationale Jugendarbeit mit Berufsorientierung und politischer Bildung. Die SUB ist keine Schule, Berufsausbildung oder Uni, sondern ein informelles, kulturelles Lernfeld. Es geht darum, in sich schlummernde Potentiale zu entdecken, Talente zu definieren und sich durch positive Selbsterfahrungen und Selbstbestätigungen gesellschaftlich zu positionieren. Es geht auch darum, ein soziales Verantwortungsgefühl zu schaffen«, so beschreibt der Gründer und Initiator Giò di Sera die Ziele seiner seit Juni 2007 aktiven »Straßenuniversität«.
Leitmotive der Bildungsarbeit sind dabei stets die Prinzipien von Empowerment und Peer Education. »Es geht uns darum, individuelle Kreativität durch interdisziplinäres, spielerisches Lernen zu fördern. Wir arbeiten niedrigschwellig, setzen stark auf die Arbeit mit Mentor/innen aus dem kulturellen Umfeld der Jugendlichen und nutzen dabei die Sprache, Styles und Codes der Jugendlichen. Wir vermitteln authentisches Wissen.«
Mit diesem praxisnahen und sozialraumorientierten Ansatz richtet sich das Projekt gegen die von vielen jugendlichen Migrant/innen empfundene Perspektiv- und Machtlosigkeit. »Wir wollen eine Gesellschaft schaffen, in der sich die Jugendlichen zu Hause fühlen«, so Giò di Sera. Kunstvermittlung und Jugendkulturarbeit sollen helfen, Wege zur Auseinandersetzung jenseits von Gewalt aufzuzeigen, Toleranz zu fördern und ein Bewusstsein für den Wert und die Chancen der eigenen Ausbildung zu schaffen. Ziel ist es immer, das Selbstwertgefühl und das Selbstvertrauen junger Menschen aus sozialen Brennpunkten zu fördern, denn »sich selbst und die eigene Biografie positiv zu sehen und daraus zu schöpfen, ist sehr wichtig«, betont di Sera im Gespräch.
Die SUB setzt ihr Bildungskonzept in einer Sprache und Form um, die von den Jugendlichen auch verstanden wird. Die biographische Authentizität der SUBporters genannten Mentor/innen – darunter zahlreiche bekannte Künstler/innen, Musiker/innen oder Schauspieler/innen – hilft den Jugendlichen, das Motto der StreetUniverCity »Trust yourself« glaubwürdig nachzuvollziehen. Der Autodidakt di Sera ist überzeugt, dass die durch die SUB erreichte Stärkung des eigenverantwortlichen Handelns, der sozialen und emotionalen Kompetenzen und des Engagements der Jugendlichen mittelfristig dem eigenen Kiez zugute kommen.
Der gebürtige Neapolitaner und Wahl-Berliner Giò di Sera ist Multimedia-Künstler, Radiomoderator und DJ. Seine Schulkarriere endete bereits nach dem Besuch der Grundschule. Mitte der 1980er Jahre verließ er seine süditalienische Heimat und zog nach Berlin-Kreuzberg. Schnell gerieten die Probleme des multikulturellen, sozial schwachen Stadtteils in den Fokus seines kreativen Schaffens. Die Überzeugung, als Künstler auch gesellschaftliche Verantwortung zu tragen, war der Ursprung und ist bis heute Hauptmotivation für Giò di Seras Engagement.
Im Jahr 2006 gründete er zusammen mit seinen Partnern Erhan Emre und Martin Kesting die StreetUniverCity Berlin: »Durch die langjährige Erfahrung und Kenntnis urbaner Jugendkulturen und einen angeborenen Sinn für praktische Lösungen kam mir die Idee, eine ›Universität der Straße‹ zu gründen schon früh. Ich glaube an den Austausch der Generationen und Kulturen und an die gegenseitige Bereicherung. Mit der Bezeichnung ›StreetUniverCity‹ wird die gesamte Gesellschaft mit einbezogen, d.h. die Hochkultur, die Soziokultur und die Subkultur. Ein Begriff, der alle anspricht und der natürlich auch der multinationalen Straßenkultur und ihrem gesellschaftlichen Aspekt eine Plattform bietet. Somit entsteht durch das Zusammenschmelzen der jeweiligen Kulturen und individueller Kreativität eine neue Kraft, so eine Art dritter Weg, der neue Perspektiven schafft.«
Das Modell der StreetUniverCity wird unterdessen auch in anderen bundesdeutschen Großstädten mit wachsendem Interesse verfolgt, wie Anfragen aus Köln, Hamburg oder Frankfurt/Main beweisen. Auch Politik und Wirtschaft sind bereits auf di Seras Konzept aufmerksam geworden. »Der Freiherr-vom-Stein-Preis gibt mir die Kraft, das Projekt StreetUniverCity weiterzuentwickeln«, zeigt sich di Sera für die Zukunft optimistisch.
Die Alfred Toepfer Stiftung F.V.S. hat unter www.toepfer-fvs.de ein Filmportrait über Giò di Sera veröffentlicht. Weitere Informationen über den Preisträger und zur StreetUniverCity Berlin finden sich unter www.streetunivercity.de
- (PDF, 745 KB)