mitarbeiten (2/2019)

Dorfgespräche stärken die Demokratie im ländlichen Raum

Wie kann es gelingen, das Zusammenleben der Menschen in Dörfern im ländlichen Raum demokratisch, dialogisch und ressourcenorientiert zu stärken? Diese Frage steht im Mittelpunkt einer neuen Publikation der Stiftung Mitarbeit. Darin stellen die Autoren den methodischen Ansatz der Dorfgespräche vor und zeigen anschaulich und praxisnah, wie sich die demokratischen Selbstheilungskräfte der dörflichen Gemeinschaft aktivieren lassen.

Ländliche Räume machten im Jahr 2015 fast 70% der deutschen Staatsfläche aus, hier lebten über 30 Prozent der Bevölkerung: so weisen es Zahlen des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung aus. Zum ländlichen Raum gehören Dörfer ebenso wie Kleinstädte; Dörfer können je nach Region zwischen 50 und mehreren Tausend Einwohner/innen groß sein.

Ein Merksatz im Diskurs über den ländlichen Raum lautet: jedes Dorf ist anders. Zugleich aber gehört es zu den verbindenden Grunderfahrungen der Menschen, die in ländlichen Räumen leben, dass Strukturen, die für ihre Lebensqualität wichtig sind, durch politische Entscheidungen negativ beeinflusst werden. Zu denken ist hier beispielsweise an die fortschreitende Ausdünnung des öffentlichen Personennahverkehrs, an die unzureichende Gesundheitsversorgung oder an den Abbau lokaler Demokratie durch Gebiets- und Gemeindereformen. Und innerhalb der Dörfer sind die Einwohnerinnen und Einwohner vielerorts mit durch Zuzug und Abwanderung entstehenden Problemen konfrontiert.

Wie lässt sich vor diesem Hintergrund das Zusammenleben im Dorf neu organisieren? Und wie lässt sich die dörfliche Gemeinschaft durch eine dialogische, ressourcenorientierte und einfach zugängliche Form der Beteiligung stärken? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt der Publikation.

Florian Wenzel und Christian Boeser-Schnebel stellen den methodischen Ansatz der Dorfgespräche vor. Sie formulieren Bausteine der Umsetzung und nennen die vier grundlegenden Kriterien für ein erfolgreiches Dorfgespräch: Beteiligung, Motivation, Dialog und Verstetigung. Die Autoren geben praxiserprobte Hinweise zum Planungsprozess und zur methodischen Gestaltung eines Dorfgespräch-Projekts.

Ausgangspunkt der Dorfgespräche ist die persönliche Begegnung, sie bildet die Grundlage für den werteorientierten und wertschätzenden Dialog. Bereits im Vorfeld eines Dorfgesprächs wird ein umfassender dialogischer Stakeholder-Prozess initiiert und und eine ressourcenorientierte Vernetzung angeschoben. Schon in dieser Vorphase kann persönliches Vertrauen jenseits bestehender Institutionen wachsen.

Ein Dorfgespräch bringt die Menschen eines Dorfs zusammen, die sich im Alltag vielfach nicht (mehr) aktiv begegnen und die oft in getrennten Welten leben. Dabei werden – das zeigen bisherige Praxiserfahrungen aus ländlichen Kommunen in Bayern und Sachsen-Anhalt – nicht selten unvermutete Potentiale sichtbar. Menschen, die auf den ersten Blick nicht zu den Aktiven aus der »Mitte des Dorfs« und zu den »Macher/innen« gehören, die vielleicht eher am Rand stehen, neu zugezogen sind oder mit dem klassischen Dorfleben wenig anfangen können, zeigen die Bereitschaft, sich aktiv am Dorfgespräch zu beteiligen.

Dorfgespräche rücken die Menschen mit ihren Talenten und Kompetenzen in den Mittelpunkt. Sie identifizieren dörfliche Schlüsselpersonen als Motoren des Wandels, sie ermöglichen Perspektivwechsel und erlauben einen neuen Blick auf die Möglichkeiten des Dorfs und seiner Einwohner/innen. So kann es gelingen, passgenaue Ideen für den Ort zu initiieren und eine »Dorferneuerung in den Köpfen« zu starten.

Dorfgespräche stärken das dörfliche Wir und aktivieren im Idealfall die demokratischen Selbstheilungskräfte der dörflichen Gemeinschaft. Sie motivieren Menschen, ihr kreatives Potenzial zu entfalten, die dörflichen Beziehungen neu zu begründen und gemeinsam zu entdecken, was möglich ist. Dorfgespräche eröffnen im sozialen Nahraum des Dorfs neue Formen der Interaktion von Mehrheit und Minderheit. Dorfgespräche stärken zudem Wertekompetenz als wichtige demokratische Schlüsselqualifikation. Die aktive Auseinandersetzung mit eigenen und fremden Werten erlaubt die Reflexion darüber, was an Gemeinsamkeit und Unterschiedlichkeit im Dorf vorhanden ist.

Dabei werden Dissens und Konflikt als essentielle Bestandteile eines demokratischen Miteinanders thematisiert. Die teilnehmenden Dorfbewohner/innen werden ermutigt, Engagement, Demokratie und Politik als einen offenen gemeinsamen Handlungsprozess zu entdecken. Zugleich erinnern Dorfgespräche daran, dass jede/r Einzelne fähig ist, demokratisch zu handeln. Die Autoren verstehen Demokratie als eine Lebensform, die nicht nur im ländlichen Raum den eigenen Gestaltungsspielraum im alltäglichen Tun stärkt.

Dorfgespräche verfolgen dabei stets einen politischen und demokratierelevanten Anspruch: den Erhalt einer offenen Gesellschaft, die aktiv mit Vielfalt umzugehen weiß und der es gelingt, Unterschiedlichkeit gemeinwohlorientiert zu bearbeiten.

Eingeleitet wird das Buch durch eine thematische Einführung von Wolf Schmidt, in der er die wichtigsten Strukturmerkmale, die regionalen Besonderheiten und übergeordneten Herausforderungen des ländlichen Raums in Deutschland anhand vieler Beispiele und in historischer Perspektive erläutert. Er entfaltet in seinem Beitrag den gesellschaftlichen Rahmen, in dem die Methode Dorfgespräch wirksam werden kann.

Florian Wenzel & Christian Boeser-Schnebel: Dorfgespräch. Ein Beitrag zur Demokratieentwicklung im ländlichen Raum. Mit einer thematischen Einführung von Wolf Schmidt. Arbeitshilfen für Selbsthilfe- und Bürgerinitiativen Nr. 53, Verlag Stiftung Mitarbeit, Bonn 2019, 120 S., 12,00 Euro, ISBN 978-3-941143-37-1, zu beziehen über den Buchhandel oder www.mitarbeit.de