mitarbeiten (1/2020)

Direkte Demokratie: Chancen, Grenzen und Herausforderungen

Die direkte Demokratie hat sich erfolgreich in der bundesdeutschen Beteiligungslandschaft etabliert. Insbesondere auf kommunaler Ebene wird sie seit vielen Jahren erprobt und durch Bürgerinnen und Bürger, durch Politik und Zivilgesellschaft regelmäßig genutzt. Dennoch entzündet sich in der kommunalen Praxis vor Ort immer wieder Kritik an der sog. sachunmittelbaren Demokratie, auch auf Bundesebene wird über die Einführung von Volksentscheiden kontrovers diskutiert. Eine neue Publikation der Stiftung Mitarbeit beleuchtet nun aus verschiedenen Perspektiven die Chancen, Grenzen und Herausforderungen der direkten Demokratie.

Seit Mitte der 1990er Jahre wächst die Zahl der Bürgerbegehren und Bürgerentscheide in Deutschland kontinuierlich. Nach Angaben der Nichtregierungsorganisation »Mehr Demokratie«, die als Fachverband die Entwicklung der direkten Demokratie seit vielen Jahren eng begleitet, werden pro Jahr im Schnitt etwa 300 neue Verfahren in Gemeinden, Städten und Landkreisen gestartet. Bürgerbegehren und Bürgerentscheide gehören somit auf kommunaler Ebene vielerorts zum Alltag.

Während die direkte Demokratie in den Kommunen und allen 16 Bundesländern in unterschiedlicher Ausprägung verbindlich gesetzlich verankert ist, werden die Diskussionen um die Einführung von Volksbegehren und Volksentscheiden auf Bundesebene seit Jahren leidenschaftlich geführt. In Deutschland verfügen laut Umfragen die Befürworter/innen der direkten Demokratie auf Bundesebene über eine Mehrheit, die sich allerdings im parlamentarischen Raum noch nicht abbildet. Während sich die Befürworter/innen von der Einführung unter anderem eine qualitative Stärkung der Demokratie versprechen, weisen die Gegner/innen auf verfassungsrechtliche Risiken hin und kritisieren die soziale Selektivität und fehlende Legitimation direkter Demokratie.

Roland Roth, Professor für Politikwissenschaften an der Hochschule Magdeburg-Stendal, analysiert in seinem Beitrag unter Berücksichtigung internationaler Entwicklungstendenzen und Erfahrungen die Argumente für und gegen die direkte Demokratie auf Bundesebene. In einem zweiten Beitrag zeigt Roth, wie Bürgerhaushalte, Bürgerbudgets und Beteiligungsfonds als Formen direkter Demokratie auf kommunaler Ebene gelingen können.

Bürgerbeteiligung muss bestimmten Standards genügen, wenn sie demokratische Anforderungen erfüllen und für alle Beteiligten zufriedenstellend und gewinnbringend sein soll. Während für die Gestaltung dialogorientierter Bürgerbeteiligung mittlerweile umfassende Qualitätskriterien vorliegen, fehlen diese für den Bereich der direkten Demokratie. Vor diesem Hintergrund widmet sich Claudia Ritzi, Juniorprofessorin für Politische Theorie an der Universität Münster, in ihrem Beitrag den Qualitätsstandards der direkten Demokratie.

Diskursive Bürgerbeteiligungsverfahren und direktdemokratische Abstimmungen sind zwei wesentliche Ansätze zur Stärkung der partizipativen Demokratie. Sie unterscheiden sich allerdings in ihren Eigenschaften, Qualitäten und Einsatzmöglichkeiten. Daraus ergibt sich ein Spannungsverhältnis zwischen sinnvoller gegenseitiger Ergänzung einerseits und möglicher Konkurrenz andererseits. Der Beitrag von Hans-Liudger Dienel, Professor für Arbeitslehre, Technik und Partizipation an der TU Berlin, macht Vorschläge, ob und ggf. wie sich die unterschiedlichen Ansätze insbesondere auf kommunaler Ebene verbinden und nutzen lassen.

Ob die Schließung eines Schwimmbads oder der Neubau eines Museums: insbesondere an kommunalen Infrastrukturvorhaben entzünden sich regelmäßig Konflikte. Nicht selten führen direktdemokratische Abstimmungen zu anderen Ergebnissen als im Vorfeld erwartet und erschweren und verzögern in der Folge kommunale Planung und Stadtentwicklung. Im kommunalen Dreieck von direkter, dialogischer und repräsentativer Demokratie verlaufen die Konfliktlinien in der Regel quer durch Einwohner- und Bevölkerungsgruppen, Zivilgesellschaft, Politik, Parteien und Verwaltung. Vor diesem Hintergrund steuert Klaus Selle, Professor am Lehrstuhl für Planungstheorie und Stadtentwicklung an der RWTH Aachen, in seinem Beitrag Beobachtungen aus der Perspektive kommunaler Stadtentwicklungspolitik bei.

Die direkte Demokratie wird seit einigen Jahren von rechtspopulistischen, rechtsextremen und autoritären Bewegungen und Parteien gezielt für ihre politischen Anliegen genutzt. Auch in Deutschland lässt sich diese Instrumentalisierung längst feststellen. Frank Decker, Professor am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn, macht in seinem Beitrag Anmerkungen zum Verhältnis von direkter Demokratie und Populismus.

Europaweit gibt es vielfältige praktische Erfahrungen mit direktdemokratischen Verfahren und ihren Ergebnissen. Anna Krämling und Lars Paulus, wissenschaftliche/r Mitarbeiter/in am Institut für Politikwissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main, analysieren in ihrem Beitrag Volksabstimmungen in Europa mit Blick auf Minderheiten.
 
Nicht zuletzt widmen sich zwei Beiträge der gemeinhin als direktdemokratisches Musterland geltenden Schweiz. Marc Bühlmann, Professor für Politikwissenschaften an der Universität Bern, erläutert in seinem Beitrag Verständnisse und Missverständnisse des Schweizer Demokratiemodells. Dr. Linards Udris, stellvertretender Forschungsleiter des Forschungsinstituts Öffentlichkeit und Gesellschaft an der Universität Zürich, und Olaf Jandura, Professor am Institut für Sozialwissenschaften der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, untersuchen in ihrem Beitrag am Schweizer Beispiel die Rolle der Medien in direktdemokratischen Abstimmungskampagnen.
 
Stiftung Mitarbeit (Hrsg.): Direkte Demokratie. Chancen, Grenzen und Herausforderungen. Bonn 2020, Beiträge zur Demokratieentwicklung von unten Nr. 29, 200 S., 12,00 Euro, ISBN 978-3-941143-40-1, zu beziehen über den Buchhandel oder www.mitarbeit.de