mitarbeiten (4/2020)

»Es geht um die Substanz«

Online-Vortrag von Prof. Dr.-Ing. Klaus Selle

Wie steht es um das Verhältnis von Anspruch und Wirklichkeit bei der Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern in Prozessen der Stadtentwicklung? So lautete die Ausgangsfrage eines Vortrags, den der Stadtforscher und Stadtplaner Klaus Selle im Rahmen des diesjährigen, virtuellen Forums für Demokratie und Bürgerbeteiligung gehalten hat. Darin setzt er sich pointiert und kritisch mit den Schattenseiten kommunaler Beteiligungspraxis auseinander und erläutert anhand ausgewählter Beispiele, wie es vor Ort glaubwürdig gelingen kann, die vielfach bestehende Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen Beteiligungskonzept und Beteiligungsrealität zu schließen.

Die Frage, wieso Anspruch und Wirklichkeit in der bundesdeutschen Beteiligungspraxis oftmals auseinanderklaffen, hängt für Klaus Selle untrennbar mit einer zweiten Frage zusammen, nämlich der nach den inhaltlichen Spielräumen und Handlungsoptionen, denen kommunale Beteiligungsvorhaben unterliegen. Deshalb wirft Professor Selle in seinem Vortrag zunächst einen Blick auf die gängige Beteiligungspraxis und den gesellschaftlichen Kontext, ehe er die Glaubwürdigkeit und die Substanz von Beteiligungsangeboten stichprobenartig ausleuchtet.

Für Selle ist klar: Deutschland kann auf langjährige Erfahrungen mit formeller und informeller Bürgerbeteiligung zurückgreifen. Es gibt eine Vielzahl an Konzepten und gelungener Praxis-Beispiele. Die Hinwendung zu mehr Bürgerbeteiligung wurde dabei stets von der Hoffnung begleitet, dass sich im kommunalen Alltag durch mehr Beteiligung eine »partizipative Kultur« entwickeln ließe, die sich flächendeckend verbreite. Dies sei jedoch ein Trugschluss, meint Professor Selle: Oft schon herrsche »in ein und derselben Gemeinde nach oder gar neben einem Vorzeige-Partizipations-Projekt ›business as usual‹. Und andernorts macht man erst gar nicht den Versuch, mehr als das gesetzlich zwingend Vorgeschriebene zu erproben.« Und selbst dort, wo sich Politik, Verwaltung und Bürgerschaft auf lokale Leitlinien zur Bürgerbeteiligung verständigt hätten, wäre beteiligungspolitischer »Dienst nach Vorschrift« nicht selten. Fortschritte der Beteiligungskultur blieben vielfach auf einzelne zeitlich und räumlich begrenzte »Inseln« beschränkt. Vor diesem Hintergrund zitiert Klaus Selle den Mannheimer Oberbürgermeister Peter Kurz, der in einem Gespräch nach seinen Erfahrungen mit Bürgerbeteiligung gefragt wurde: »Also die Naivität muss jetzt wirklich aufhören, nämlich die Naivität zu sagen: »Je mehr Beteiligung, desto besser«. Diese »ernüchternde Erfahrung«, so Selle, werde auch von vielen Praktiker/innen geteilt.

Dies gelte besonders für das Handlungsfeld der Stadtentwicklung. Dort gäbe es zwar erhebliche Gestaltungsspielräume für Partizipation, etwa die gesetzlich vorgeschriebenen Öffentlichkeitsbeteiligungen, die auf sehr vielfältige Weise ausgestaltet und durch verschiedenste »informelle« Verfahren ergänzt werden können: »Aber diese Partizipationsangebote werden den Ansprüchen oft nicht gerecht: manche Anforderungen werden erst gar nicht beachtet, erhoffte Wirkungen stellen sich nicht ein und gelegentlich verkehren sie sich sogar in ihr Gegenteil.« So laute eine mit Beteiligung verknüpfte Erwartung, dass sich Konflikte im Dialog konstruktiv bearbeiten ließen, aber oft gelinge das nicht: »Mehr noch: die Auseinandersetzung polarisiert sich und aus dem Streit um die Sache werden Oben-Unten-Konflikte.« Zudem bleibe die lokale Politik vielfach »unsicher bei der Gestaltung des Verhältnisses von partizipativer, direkter und parlamentarischer Demokratie«.

Diese Haltung werde verstärkt durch das Verhalten einzelner Gruppen der Bevölkerung, die Beteiligungsmöglichkeiten »offensiv gegen parlamentarische Verfahrensgänge einsetzen«.

Für Selle folgt daraus, dass »Beteiligung offensichtlich nicht per se gut ist.« Deshalb schlägt er vor, gesellschaftliche und politische Kontextbedingungen sehr viel stärker als bislang in der Diskussion um Teilhabe vor Ort zu berücksichtigen: »Denn es ist anzunehmen, dass das in der Gesellschaft entstandene Gespinst von Misstrauen, Vereinfachung, Realitätsverlust und Polarisierung nicht ohne Folgen für die kleine Welt lokaler Bürgerbeteiligung ist.« Es gelte deswegen, die Frage der Glaubwürdigkeit im Kontext von Bürgerbeteiligung »besonders ernst zu nehmen«. Ein »Prüfstein« für diese Umorientierung sei die »Substanz der Beteiligungsangebote«, im Mittelpunkt sollte das Was und nicht das Wie stehen: »Für Partizipation heißt das etwa: die Inhalte sind für die Beteiligten bedeutsam. Es bestehen Gestaltungsspielräume, um deren Nutzung es zu ringen gilt.« Die inhaltliche Glaubwürdigkeit von Beteiligungsangeboten in Stadtentwicklungsprozessen sei der Gradmesser für gelingende Partizipation.

Für die »Diskrepanz zwischen den vermeintlichen Einflussmöglichkeiten und den später tatsächlich wahrgenommenen Wirkungen« führt Selle verschiedene Gründe an. Kommunikation in Stadtentwicklungsprozessen beziehe beispielsweise viele Akteure auf unterschiedliche Weise ein, die Kommune sei dabei »nur ein Akteur unter anderen«. Zudem erstrecken sich Beteiligungsprozesse in der Stadtentwicklung über lange Zeiträume. Die Öffentlichkeitsbeteiligung, »also der Dialog zwischen Stadtverwaltungen und lokaler Bürgerschaft ist nur ein kleiner, zumeist zeitlich eng umgrenzter Ausschnitt aus einem sehr viel umfassenderen Kommunikationskontext. Womit sich der mögliche inhaltliche Einfluss der Beteiligung schon a priori wesentlich relativiert«, so Selle. Dennoch werde »im Gegensatz zur realen Akteurs- und Stimmenvielfalt in vielen Verfahren die Erwartung geweckt, dass einzelne Bürgerinnen und Bürger mit ihren Ansichten substanziell Einfluss nehmen könnten«. Hier werde eine »Selbstwirksamkeitserwartung« erzeugt, die »nur enttäuscht werden kann«. Auch die vielerorts praktizierte »Wunschzettelbeteiligung« sei problematisch, weil sie oft untaugliche oder vorhersehbare Resultate erzeugt. Klaus Selle ist überzeugt, dass solche Wunschkataloge »gleich mehrere rote Linien der Vereinfachung« überschreiten; zugleich bereiten sie nicht auf die »notwendigerweise folgenden schmerzhaften Kompromisse« vor, die für den Interessensausgleich im Rahmen von Beteiligungsverfahren konstitutiv sind.

Neben der übermäßigen Vereinfachung von Fragestellungen, dem Ausblenden realer Pluralität und der so erzeugten Irrelevanz von Ergebnissen kann auch »Unehrlichkeit« als ein weiterer inhaltlicher Faktor dazu beitragen, dass Beteiligungsangebote als unglaubwürdig angesehen werden, sagt Selle. Unehrlichkeit liege dann vor, wenn zum Beispiel eine Behörde ihre Planungen nicht ändern will oder kann; dann seien »Partizipationsangebote unnütz oder gar unehrlich und sollten besser unterlassen werden«.

Unehrlichkeit sei aber auch auf Seiten der Bürger/innen oder anderer Akteure anzutreffen, zum Beispiel dann, wenn »tatsächliche Interessen hinter vorgeschobenen Argumenten versteckt werden. Da müssen dann die Gelbbauchunke oder das zarte Federgeistchen herhalten, um die Bebauung der Feldflur am Ortsrand zu verhindern. Obwohl es doch einem Teil derjenigen, die solche Bedenken erheben, eigentlich um den Schutz ihrer bisherigen Aussicht, die Abwehr unerwünschter Bevölkerungsgruppen in der Nachbarschaft und letztlich um den Wert ihrer Immobilien geht«. Um Missverständnisse zu vermeiden, stellt Selle klar: das Problem beim Umgang mit Interessen »besteht nicht darin, dass es sie gibt, sondern dass sie sich nicht zeigen«.

Was also ist zu tun? Für Klaus Selle setzt glaubwürdiges Beteiligen voraus, dass über Fragen gesprochen wird, die für die Beteiligten und für den weiteren inhaltlichen Prozess von Bedeutung sind. Das heißt, die Beteiligten werden als »Expertinnen und Experten des Alltags« ernst genommen; die Beteiligenden haben ein inhaltliches Interesse an den Antworten und gewährleisten, dass sie im weiteren Prozess erkennbar genutzt werden. Ferner plädiert er dafür, mehr »Klarheit zu wagen« und den Menschen auch die Grenzen von Beteiligung aufzuzeigen. Nicht zuletzt sei das »Anerkennen von Pluralität die Prämisse aller Demokratie«. Pluralität müsse aber sichtbar gemacht werden. Es gelte, »die Vielfalt der Akteure und ihrer Interessen – auch innerhalb der Stadtgesellschaft – von Anfang an herauszuarbeiten und ihnen Stimmen im Prozess zu geben«. Es gelte zudem sicherzustellen, dass auch »die Stimmen, die gerade nicht zu hören sind und die Belange, die gerade nicht im Mittelpunkt stehen, der Beachtung bedürfen«. Ebenfalls entscheidend sei die Bereitschaft aller Beteiligten, »zum Interessenausgleich bereit zu sein und nicht auf der Durchsetzung einer Position zu beharren«. Auch sei es wichtig zu klären, was die einzelnen Akteure in einem Beteiligungsprozess selber zur Lösung beitragen können und nicht alle Forderungen beispielsweise an »die Stadt« zu adressieren. So ließe sich in der Praxis das »Verständnis von Stadtentwicklung als Gemeinschaftsaufgabe« stärker verankern. Selles zusammenfassendes Fazit: »Es kommt nicht auf gelegentliche Beteiligungsevents an, sondern auf die beharrliche Arbeit an der Herausbildung einer kommunikativen Kultur vor Ort. Und das beinhaltet immer auch die Auseinandersetzung mit Widerständen und Hemmnissen. Wenn wir uns nicht dem Vorwurf der Naivität aussetzen wollen, müssen wir dieses Spannungsverhältnis benennen, aushalten und als Ansporn nutzen«. 

Der Online-Vortrag von Klaus Selle in voller Länge im Netz unter www.mitarbeit.de/publikationen/video_gespraeche