mitarbeiten (4/2005)

Vom Quartierbudget zur Direkten Demokratie – Tagung in Loccum

»Tenever ist hoch, jung, international und arm.« Die vier Adjektive, mit denen der Quartiersmanager Joachim Barloschky den Stadtteil im Bremer Süd-Osten beschreibt, sind für Trabantensiedlungen in Großstädten keineswegs untypisch. Was Tenever mit seinen 11.000 Einwohner(inne)n, (davon 6.000 allein im Hochhausviertel) aus rund 80 Nationen von anderen unterscheidet, ist seine langjährige Tradition und Praxis der Bewohner(innen)beteiligung sowie die gut funktionierende Kooperation und Kommunikation der verschiedenen lokalen Akteure.

Im Arbeitkreis Tenever, einem seit 30 Jahren bestehenden selbstorganisierten Zusammenschluss aller sozialen Einrichtungen und Initiativen des Quartiers, werden Entwicklungen und Probleme diskutiert und gemeinsame Aktionen geplant. Er versteht sich als Lobby für die sozialen Belange der Bewohnerinnen und Bewohner und greift aktiv in das Leben des Quartiers ein.

Für die Umsetzung der Quartiers­entwicklungsprogramme wurde die Stadtteilgruppe Tenever geschaffen. In der Stadtteilgruppe treffen sich alle, die im Gemeinwesen leben, arbeiten oder Verantwortung tragen: Interessierte Bewohnerinnen und Bewohner als die Hauptakteure, die Experten ihres Lebensumfeldes, die Wohnungsgesellschaften, Vertreter(innen) der sozialen, kulturellen Gesundheits- und Bildungseinrichtungen, die Politik, die Verwaltung und die Gewerbetreibenden.

Zu Beginn jeder Sitzung steht der Punkt »Aktuelle Fragen und Probleme«. Hier können alle Fragen des Gemeinwesens angesprochen werden. Häufig geht es um den desolaten Zustand der Wohngebäude, verschmutzte Eingänge oder Flure. Auch politische Themen wie die drohende Schließung einer Stadtteilbibliothek, ökologische Fragen, Fragen der Sicherheit, die Versorgungssituation der Kinder, Imageprobleme des Quartiers oder die Auswirkungen der Sanierung Tenevers werden diskutiert. »Wer diesen Tagesordnungspunkt aufmerksam verfolgt, erfährt viel von den aktuellen Stimmungen und Problemen im Quartier« so Barloschky.

Aber: In der Stadtteilgruppe wird nicht nur geredet, sondern auch mitentschieden. Öffentliche Mittel für ein Projekt werden nur dann bewilligt, wenn in der Stadtteilgruppe Konsens über die Vergabe erzielt wird. Anders ausgedrückt bedeutet das: Jede(r) Beteiligte kann ein Veto einlegen. Und dieses Modell funktioniert. In den letzten fünfeinhalb Jahren wurden in Tenever 300 Konsensbeschlüsse gefasst. Manches Mal hat auch ein Veto zu einer deutlichen Qualitätsverbesserung eines Projektes beigetragen, denn ein einmal »gescheitertes« Projekt ist nicht unbedingt für immer gescheitert, sondern kann mit allen Beteiligten und insbesondere denen, die ihr Veto eingelegt haben, überprüft, nachgebessert und erneut zur Beschlussfassung gestellt werden, wie Barloschky erläuterte.

Gerade die Mitverantwortung über das Quartierbudget unterstreicht die Ernsthaftigkeit der Beteiligung. Wer von Bewohnerinnen und Bewohnern verantwortliches Handeln erwartet, muss ihnen auch reale Verantwortung übertragen.

Tenever ist eines von zehn Projekten, die im Bremer Programm »Wohnen in Nachbarschaften (WiN)« gefördert werden und für die diese bundesweit einmalige Vergabepraxis gilt. Das zunächst auf den Zeitraum von 1999 bis 2004 befristete Programm wurde wegen des großen Erfolges und der guten Resonanz der Bewohnerinnen und Bewohner und den lokalen Akteuren um weitere sechs Jahre verlängert.

Barloschkys Beitrag gehörte zu den Höhepunkten der zehnten Tagung »Modelle der lokalen Einwohner(innen)beteiligung« von Stiftung MITARBEIT und Evangelischer Akademie Loccum. Mit dem leicht veränderten Titel – früher »Bürger(innen)beteiligung« – sollte anlässlich des »Zehnjährigen« besonders unterstrichen werden, dass es auch um die Partizipation nicht-wahlberechtigter Migrant(inn)en, Kinder und Jugendlicher geht.

Den Schlusspunkt der Tagung setzte Daniel Schily, 1988 Mitgründer von Mehr Demokratie e.V. und heute deren Landesgeschäftsführer in Nordrhein-Westfalen. Schily setzte sich mit den demokratietheoretischen Grundlagen von Direkter Demokratie und Einwohner(innen)beteiligung auseinander. Dabei stellte er heraus, dass beratende Beteiligungsverfahren und verbindliche Bürgerentscheide keineswegs in Konkurrenz zueinander stehen, sondern sich bei der Entwicklung lokaler Demokratie gegenseitig ergänzen. Indirekte Wirkungen von Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden bestehen etwa im Bemühen, bereits im Vorfeld von Planungen und Entscheidungen aller relevanten Interessen besser einzubeziehen. Anhand konkreter Praxisbeispiele zeigte Schily auch, wie Bürgerbegehren und Bürgerentscheide das Bürgerengagement und das Interesse an der kommunalen Politik erhöhten.

Daran, dass dies inzwischen, wenn auch mit sehr unterschiedlichen formalen Regelungen und Bedingungen, in allen Bundesländern auf kommunaler Ebene möglich ist, hat mehr Mehr Demokratie e.V. mit seiner Arbeit großen Anteil. Daniel Schily sprach sich für die Einführung von Volksentscheiden auf Bundesebene aus, wie es sie in zahlreichen anderen europäischen Ländern längst gibt.

Thesen und Tagungsunterlagen zur Tagung »Modelle der lokalen Einwoh­ner(innen)beteiligung« stehen im Internet unter http://www.mitarbeit.de/?id=530.