mitarbeiten (1/2009)

»Freiwillige wachsen mit ihren Aufgaben« (1/2)

Für ihre beispielhafte und innovative Arbeit zur Betreuung älterer demenzkranker und pflegebedürftiger Menschen wurde Alice Fröhlich, Initiatorin des Bremerhavener Vereins SOLIDAR – Freiwillige Soziale Dienste, im November 2008 mit dem Freiherr-vom-Stein Preis für gesellschaftliche Innovation geehrt. Die traditionsreiche Auszeichnung ist einer der höchstdotierten deutschen Preise für Bürgerengagement. Er wird alljährlich von der Alfred Toepfer Stiftung F.V.S. in Kooperation mit der Humboldt-Universität zu Berlin und der Stiftung MITARBEIT verliehen. Im Gespräch stellt Alice Fröhlich die Arbeit des Vereins vor und erläutert, was Politik und Kommunen tun können, um die Situation demenzkranker Menschen zu verbessern.

Alice Fröhlich, Sie engagieren sich seit 1985 für das Thema Demenz und für die Betreuung älterer und pflegebedürftiger Menschen, seit 1997 im Rahmen Ihres Vereins und »Lebensprojekts« SOLIDAR. Gab es ein Schlüsselerlebnis für Ihr Engagement?
Bei einem Sommerfest vor 20 Jahren in einer Pflegeeinrichtung in Bremerhaven habe ich gesehen, dass die Pflegekräfte sich unendlich viel Mühe gaben, aber viel Unterstützung gebraucht hätten (und wenn es z. B. Abwaschen wäre). In Holland gibt es eine Art »Freiwilligen-Kultur» und es war für mich als gebürtige Niederländerin selbstverständlich, meine Unterstützung in irgendeiner Art und Weise anzubieten. Darüber hinaus war mir klar: Es wird immer mehr hochbetagte Menschen geben, die bisherigen sozialen Netze werden brüchiger, der Unterstützungsbedarf nimmt zu. Die zur Verfügung stehenden Ressourcen, individuelle, familiäre sowie die Leistungsfähigkeit und Finanzierbarkeit der professionellen Dienste reichen nicht aus, um diesen Anforderungen nachzukommen. Und die Frage, die jede/r sich mal stellen sollte ist, wäre: Wie wollen wir selber älter werden?   

Was ist die Motivation Ihrer Arbeit mit alten und pflegebedürftigen Menschen?
Das wichtigste Motiv vieler freiwilliger Mitarbeiter/innen ist der Wunsch, in Gemeinschaft mit anderen etwas Sinnvolles zu tun und dabei die eigenen Fähigkeiten zu bestätigen oder neue zu erwerben.

SOLIDAR ist vom niederländischen Modell ehrenamtlicher Arbeit beeinflusst. Was bedeutet das konkret?
Von großer Bedeutung ist die Anerkennung freiwilliger Tätigkeit, welche bisher weitgehend vernachlässigt wurde. Dabei denke ich sowohl an die persönliche, individuelle Bestätigung als auch an die öffentliche Anerkennung des freiwilligen Engagements. Jede Organisation muss Wege finden, um die Freiwilligen effizient einzusetzen, in dem man ihnen das Gefühl verschafft, ein wichtiger und wertvoller Teil der Organisation zu sein. Solange Hauptberufliche und Freiwillige als Konkurrenz verstanden werden, lässt sich die partnerschaftliche Zusammenarbeit nicht verwirklichen. Gerade Freiwillige aber benötigen diese partnerschaftliche Zusammenarbeit für ihre Tätigkeit.

Gibt es einen Unterschied zwischen den Niederlanden und der Bundesrepublik, was die Bedeutung und die Akzeptanz von Freiwilligenarbeit angeht?
Freiwilligenengagement ist in den Niederlanden ein eigener Gesellschaftsbereich. Hier steuert nicht das Geld und das Kapital den Fortgang. Hier zählen Interessen, Kompetenz, Kontakte, Solidarität. Auf jeden Fall ist freiwilliges Engagement ein Beitrag zu einer öffentlichen Verhaltensweise und Ausdrucksform der eigenen Werte und des eigenen Lebensstils. Engagiert sein meint eine Haltung, in der ich Angelegenheiten zu meiner Sache mache. Dabei spielen Identifikationen mit Vereinen und Verbänden keine Rolle mehr. Die Sinnhaltigkeit der Tätigkeit muss überzeugen.

Wie fördert das niederländische Gesundheits- und Pflegesystem den Einsatz von Freiwilligen?
In den Niederlanden gibt es auf nationaler Ebene das Nederlandse Organisaties Vrijwilligerswerk (NOV) mit Sitz in Utrecht. Das NOV steht im direkten Kontakt mit der Regierung und wird bezahlt durch das Ministerium für Volksgesundheit. Das NOV ist die niederländische Dachorganisation des Ehrenamtes. Sie bildet die Interessenvertretung aller Organisationen, die in diesem Bereich arbeiten, sie übernimmt die Lobbyarbeit gegenüber der Politik. Das NOV gibt z. B. Infomaterial (Broschüren, Computerprogramme usw.) aus. Daneben gibt es auf kommunaler Ebene Freiwilligenagenturen vor Ort, welche von den Gemeinden bezahlt werden. Pflegeeinrichtungen, die Freiwillige suchen, können sich in diesen Büros melden. Diese niederländischen Freiwilligen-Zentralen sind zentral organisiert und lokal strukturiert. Sie werden staatlich gefördert und sind national etabliert.

Einer der Kernsätze, mit denen Sie Ihre und die Tätigkeit der Mitarbeiter/innen von SOLIDAR beschreiben, lautet: »Wir pflegen die Seele der Menschen«. SOLIDAR stellt die Würde der Betroffenen und den individuellen Umgang mit pflegebedürftigen Menschen in den Mittelpunkt seiner Arbeit. Wieso kann Ihrer Erfahrung nach das hauptamtliche Pflegepersonal diese Art der Pflege im normalen Alltag einer Pflegeeinrichtung nicht leisten?
Vom Wissen her können hauptamtliche Mitarbeiter/innen selbstverständlich diese Art der Pflege leisten. Das Problem ist der Personalschlüssel. Es gibt zu wenig Pflegepersonal! Generell werfen die Entwicklung im Gesundheitssystem, eine immer älter werdende Bevölkerung und gestiegene Ansprüche an die professionelle Versorgung die Frage auf: Wie kann man fachliche Arbeit qualitativ aufrechterhalten und gleichzeitig mit menschlicher Zuwendung gewährleisten und welche Mittel und Personen stehen dafür zur Verfügung? Viele Pflegeeinrichtungen stehen unter einem hohen ökonomischen Druck. Alles fängt mit Geld an und hört mit Geld auf. Zusätzlich wächst und wächst die bürokratische Arbeit. Die Qualität der Pflege ist in Gefahr!  Ich möchte das an einem Praxisbeispiel illustrieren: 15 an Demenz erkrankte Menschen wohnen zusammen. Alle 15 können nicht mehr selber essen, sie müssen das Essen und die Getränke gereicht bekommen. Für diese Gruppe stehen eine Betreuungskraft und zwei bis drei Pflegekräfte zur Verfügung, welche auch die körperliche Pflege leisten müssen. Ich habe einer Bewohnerin – menschenwürdig – das Essen gereicht und brauchte dafür fast eine Stunde. Nun rechnen Sie mal aus: 15 ältere an Demenz erkrankte Menschen stehen so wenige hauptamtliche Mitarbeiter/innen gegenüber. Wie soll das denn gehen?

Das Verhältnis zwischen haupt- und ehrenamtlichem Pflegepersonal birgt auch Konfliktpotential. SOLIDAR arbeitet in Pflegeeinrichtungen eng mit Hauptamtlichen zusammen und versteht sich grundsätzlich als unterstützende Kraft für das hauptamtliche Pflegepersonal. Wie verläuft die Kooperation zwischen Haupt- und Ehrenamtlichen in den Einrichtungen vor Ort? Welche Schwierigkeiten gibt es?
Wenn Vielfältigkeiten da sind, lernt man damit zu leben. Ein Team muss es aushalten können, wenn die Mitarbeiter/innen so verschieden sind. Lebendige Toleranz ist besser als toter Frieden. Im Kern geht es darum, die verborgenen Barrieren zu überwinden, die sich in beiderseitigen Haltungen und Einstellungen widerspiegeln. Das ist nur in einem gemeinsamen Prozess, mit Offenheit und Transparenz, möglich. Freiwillige und Hauptamtliche benötigen Schulungen und Supervision, um gemeinsame Grenzen zu erkennen. Es gibt nicht nur eine Form, etwas richtig zu machen. Wenn keine Konflikte zugelassen werden, findet man sich automatisch in einer Negativspirale wieder. In unserem Fall sorgt das Leitungsteam des FSD mit der Leitung des Hauses für eine klare Aufgabenverteilung auf beiden Seiten und für überschaubare Arbeitsprozesse, die die Lebensqualität aller Gruppen im Hause heben. Professionalität und freiwillige Tätigkeit schließen sich nicht aus, sondern sind Voraussetzung für einen gut funktionierenden freiwilligen sozialen Dienst! Der FSD gibt damit den Freiwilligen nicht nur für die Tätigkeit im Hause einen neuen Status und eine neue Rolle, sondern auch im gesellschaftlichen Leben.
Freiwillige sind keine unentgeltlich arbeitenden »Lückenbüßer für das hauptamtliche Pflegepersonal«, wie vielfach vorwurfsvoll suggeriert wird.  Das ist heute in neuen Arbeitsformen anders. Leitung und Freiwillige wachsen mit den Anforderungen und ihren Aufgaben. Wichtig ist das Herbeiführen einer Gesellschaft des Miteinanders, nicht bloß nebeneinander und schon gar nicht gegeneinander. Alle Beteiligten müssen und können lebendig miteinander lernen: Es geht darum, einen gemeinsamen Sinn für Verantwortung und eine Bereitschaft zur Zusammenarbeit zu entwickeln.

weiter zu Teil 2 des Interviews